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Roman
Buenos Aires als Bühne

Die Journalistin María Sonia Cristoff ist in ihrer Heimat Argentinien vor allem durch ihre Reportagen für verschiedene Tageszeitungen bekannt. Ihr Thema ist die Prägung des Menschen durch den Ort, an dem er lebt. In ihrem Roman "Unter Einfluss" ist dieser Ort Buenos Aires.

Von Eva Karnofsky | 17.04.2014
    Maria Sonia Cristoff, aufgenommen am 06.10.2010 in Frankfurt am Main.
    Maria Sonia Cristoff (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    Tonia ist in Gedanken versunken und so stößt sie auf der Straße mit Cecilio zusammen, so heftig, dass er stark aus der Nase blutet. Sie begleitet ihn nach Hause. Obwohl er einen langen Umweg geht, traut sie sich nicht, dagegen zu protestieren, denn sie plagt das schlechte Gewissen. Schließlich hat sie nicht aufgepasst und die riesigen Blutflecken auf seinem Lieblings-T-Shirt zu verantworten. Tonia erfährt, dass Cecilio, obwohl schon um die 40, bei seiner wohlhabenden Mutter lebt und sich dem Müßiggang hingibt. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn er geht täglich stundenlang durch Buenos Aires.
    Erzählt wird María Sonia Cristoffs Roman "Unter Einfluss" in der Ich-Form, und zwar von Tonias Freundin Rosa, die in der Rückschau Tonias Mutter über die seltsame Beziehung ihrer Tochter zu Cecilio berichtet, wobei sie auch aus Tagebuch-Notizen von Tonia zitiert.
    Einige Monate nach ihrem Zusammenstoß begegnen sich Tonia und Cecilio erneut in einem Supermarkt und dort, so erzählt es zumindest Rosa Tonias Mutter, habe Cecilio sich angeboten, Tonia beim Einkauf zu helfen:
    "Cecilio beteuerte, er habe bewusst nur das Allerbeste für sie ausgewählt. Und jetzt mache er sich wieder auf einen seiner langen Spaziergänge. Er marschiere immer einfach drauflos, ohne festes Ziel. Tonia fragte, ob er auch Lollo rosso eingepackt habe und Kartoffeln, von den kleinen, aber auch von den großen, und ob er diesen schön süßen Mais aus der Werbung gefunden habe. Als würde sie mit ihrem Ehemann sprechen. Alles nur, um ihn aufzuhalten. Wobei sie sich nicht eben geschickt anstellte."
    Tonia lässt schließlich ihren vollbepackten Einkaufswagen stehen und rennt hinter Cecilio her, als der völlig unvermittelt plötzlich mit Riesenschritten aus dem Supermarkt stürmt.
    Von da an beginnen die beiden, sich für gemeinsame, ziellose Märsche durch die Stadt zu verabreden, obwohl Tonia eigentlich keine Zeit hat, da sie als freie Lektorin viel arbeiten muss, um über die Runden zu kommen.
    Gewöhnlich schickt Cecilio ihr eine Mail, kurz bevor er losgeht, und sie lässt dann alles stehen und liegen, um sich ihm anzuschließen. Die Frau, die immer selbstständig war, steht völlig unter Cecilios Einfluss. Daher auch der Titel. Um keine seiner Mails zu verpassen, geht sie schließlich nicht einmal mehr mit ihrem Hund vor die Tür.
    Als Cecilios Mutter ihrem Sohn den Unterhalt streichen will, da er keiner Arbeit nachgehen will, verschreibt Tonia sich ganz Cecilios Bemühungen, ein Aktions- und Video-Künstler nach dem Vorbild des in Mexiko lebenden Belgiers Francis Alÿs zu werden.
    "Auszeit. Mehr stand nicht in dem Telegramm, das Tonia ihrer Mutter vor einer Woche geschickt hat. Da war sie seit ungefähr einem Monat verschwunden."
    Bis Tonia sich für die Auszeit entscheidet, ist "Unter Einfluss" eine sehr gelungene Satire über eine Frau, die ihr gesamtes bisheriges Leben für einen Mann aufgibt, der ihr nicht mehr bietet als regelmäßige Fußmärsche durch die Stadt, auf denen sich die beiden zudem nur in Halbsätzen unterhalten.
    Kunst im Betrieb
    Im zweiten Teil des Buches nimmt sich María Sonia Cristoff dann die Kunstszene vor. Genauso detailgenau und bis ins Lächerliche überspitzt, wie sie Tonias Abrutschen in die Abhängigkeit von Cecilio schildert, beschreibt sie, wie Cecilio vergeblich versucht, ein Künstler zu sein. Er kann oder will sich nicht dem Einfluss der Arbeiten von Francis Alÿs´ entziehen. Und so imitiert er ihn eigentlich nur, zum Beispiel, wenn Cecilio in Anlehnung an eine Aktion von Alÿs durch die Straßen geht und sich beim Gehen die Fingernägel feilt, um Findernagelstaub zu hinterlassen.
    Maria Sonja Cristoff macht sich nicht nur über Möchtegern-Künstler wie Cecilio lustig, sondern auch über den Kunstbetrieb, der solch albernen Aktionen und den Videos darüber schließlich eine Ausstellung widmet. Tonia jedenfalls werden dabei endlich die Augen über Cecilio geöffnet:
    "An der Wand zu meiner Rechten hängen lauter Bildschirme, auf denen Videofilme zu sehen sind: Cecilios Verhaftung auf dem Kongressplatz (13 Min.), die Sammelaktion in der Calle Florida (21 Min.), die daraus hervorgegangene Skulptur und die Reaktion der Passanten darauf (6 Min.), die rasende Menge in der Calle Florida (23 Min.). Zusammen mit der Dauer des Films ist auf dem darunter angebrachten Schildchen jeweils auch dessen Titel angegeben - einer schlechter als der andere. Cecilio hat einfach die Titel der Werke von Francis Alÿs übernommen und willkürlich Satzzeichen oder Akzente hinzugefügt. Wut steigt in mir auf, statt mit Knochenmark ist meine Wirbelsäule auf einmal mit Wut gefüllt."
    "Unter Einfluss" ist auch ein Roman über Buenos Aires. Die meisten Bewohner der argentinischen Hauptstadt lieben ihre quirlige Stadt, trotz ihrer schlechten Luft und der vielen Menschen, die es immer eilig haben. Auch über sie macht sich die leidenschaftliche Patagonierin Cristoff lustig. Sie selbst lebt nur in Buenos Aires, weil sie in der Abgeschiedenheit Patagoniens als Journalistin nicht genügend Arbeit findet. Selbsternannte Künstler wie Cecilio, deren Aktionen mehr dem schnellen Broterwerb als der Kunst geschuldet sind, gehören genauso ins Bild dieser Stadt wie die politischen Demonstranten, die vor dem Kongress kampieren, und die Cecilio in einer seiner Aktionen parodiert. María Sonia Cristoff beschreibt die bunte, flirrende Großstadt Buenos Aires als einen Ort, der skurrilen Charakteren wie Cecilio eine Bühne bietet und wie gemacht dafür ist, das alte Leben abzustreifen und unterzutauchen - wie Tonja es schließlich tut.
    María Sonia Cristoffs detaillierte Art, Menschen und ihre Umgebung zu beschreiben, sind der Reportage abgeschaut. Da die Autorin darüber hinaus übertrieben ernsthaft schreibt, kommt der Roman komisch und leicht lesbar daher. Kritisch sei angemerkt, dass die zeitliche Abfolge der Ereignisse manchmal nicht klar erkennbar ist. Doch dem Lesegenuss tut dies keinen großen Abbruch.
    María Sonia Cristoff: "Unter Einfluss"
    Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2013, 167 Seiten, 24,00 Euro