Freitag, 19. April 2024

Archiv

Roman "Die Chance"
Eine Art realistisches Märchen

Vielleicht muss man eine Menge Lebenserfahrung gesammelt haben, um eine so leichtfüßige Komödie über eine Ehekrise schreiben zu können, die wie ein Märchen endet. Das nimmt dem Roman weder seine innere Dynamik noch das bisweilen zwiespältige Vergnügen, Vertrautes wiederzuerkennen. Ein gelungenes Werk von Stewart O'Nan: "Die Chance" über eine nicht gänzlich misslungene Ehe.

Von Johannes Kaiser | 30.09.2014
    Stewart O'Nans 15 Romane faszinieren nicht zuletzt durch ihre geradezu empörende Unterschiedlichkeit. Eine typische Charaktereigenschaft des 1961 in Pittsburgh geborenen Autors: Seine Neugierde für Konstruktionstechniken, die ihn Flugzeugingenieur werden ließ, zeigt sich auch in seinen Geschichten. Um sein Metier von Pike auf zu lernen, studierte er "creative writing" - ein typisch amerikanisches Vorgehen: die Vorstellung, man könne alles erlernen, wenn man sich nur richtig darum bemühe. Das alte Europa redet da lieber von Talent, von Begabung. Wie auch immer: Stewart O'Nans jetzt übersetzter Roman "Die Chance" ist wieder eine literarische Überraschung: eine Art realistisches Märchen.
    "Ich wollte diesmal eine Geschichte über eine Ehe schreiben und zwar eine Liebesgeschichte eines Paars aus der Mittelschicht. Ich dachte an einen Roman in der Art eines Duells. Außerdem faszinierte mich die Geschichte eines Mannes aus Georgia, der nach Las Vegas fuhr, seine gesamten Ersparnisse mitnahm und auf den Roulettetisch packte. Ich hatte das in der Zeitung gelesen. Es ist ganz verrückt. Er nahm sein ganzes Geld und beschloss zu gewinnen oder zu verlieren - alles oder nichts. Ich fand das Verhalten interessant. Manchmal denken wir in absoluten Begriffen. Entweder ist alles wunderbar oder schrecklich. Ich dachte mir, dass das auch auf Ehen zutrifft oder Romanzen. In Filmen ist alles einfach herrlich und perfekt, aber das Leben ist natürlich nie so. Ich wollte also diese beiden Geschichten miteinander verbinden."
    Protagonisten stecken in Schulden
    Marion und Art sind seit über 30 Jahren verheiratet. Doch ihre Ehe ist schwer angeknackst, seit Art seiner Frau einen Seitensprung gebeichtet hat. Sie ist empört und will ihm nicht verzeihen, obwohl auch sie selbst kein reines Gewissen hat. Sie ist selbst fremdgegangen, und zwar mit einer Arbeitskollegin. Doch das hat ihr Mann nie mitbekommen und so schweigt sie, kann es aber nicht lassen, immer wieder zu sticheln. Dass ihre Ehe derzeit in einer schweren Krise steckt, ist aber nicht nur diesen außerehelichen Beziehungen geschuldet, sondern auch ihrer wirtschaftlichen Situation.
    Beide sind ihre Jobs losgeworden und stecken kopftief in Schulden. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, sind sie das Haus los, muss Art Privatinsolvenz anmelden. Der 53jährige Stewart O'Nan hat hier die aktuelle Wirtschaftskrise in den USA als Hintergrund gewählt. Viele haben ihre Jobs verloren und damit auch ihre Häuser, weil sie die hohen Kredite nicht mehr bedienen konnten. Es ist vor allem die Mittelschicht, die diesmal mit betroffen ist und so ist die Situation des Ehepaars im Roman durchaus typisch für hunderttausende Paare, die Jahrzehnte hart gearbeitet haben, um sich ihren Traum vom häuslichen Glück zu erfüllen und nun vor den Trümmern ihres Lebens stehen.
    Art setzt alles auf eine Karte im Casino
    Art beschließt, alles auf eine Karte zu setzen, bzw. auf die Roulettekugel. Er glaubt, das Schicksal bezwingen zu können und überredet seine Frau, mit ihn nach Niagara Falls, den kleinen Ort auf kanadischer Seite der Niagara Fälle zu fahren, um dort im neu eröffneten Casino ihre letzten Ersparnisse am Roulettetisch zu setzen. Die rund 40.000 Dollar, die sie noch besitzen und die er jetzt in seiner Reisetasche über die Grenze schafft, würden sowieso nicht reichen, ihre Schulden abzuzahlen. Gewinnen sie aber, so wie er das geplant hat, könnten sie mit der zehnfachen Summe zurückkehren und wären aller Sorgen ledig.
    "Ich bin mit meiner Frau zum Valentinstag dort hingefahren. Ich wollte alles sehen und ausprobieren. Ich bin in die Casinos gegangen, habe im selben Hotel gewohnt, habe die Plätze ausgekundschaftet. Es war wie beim Film. Man will sehen, was es dort Interessantes gibt und was man möglicherweise in das Buch mit aufnehmen will. Niagara Falls ist so eine Art Las Vegas ohne dessen Reiz. Es ist ein wirklich sehr merkwürdiger und trübsinniger Ort, eine Touristenfalle; alles ist teuer. Dort gibt es zwar die wunderbaren Wasserfälle, die sind spektakulär und fantastisch, aber alles um sie herum ist eher schäbig. Es ähnelt den Kirmesbuden von reisenden Fahrgeschäften, zu riesiger Größe aufgeblasen. Es ist Kitsch. Es ist einfach ein schrecklicher Ort."
    Marion ist die Realistischere
    Mit verhaltener Ironie beschreibt Stewart O'Nan, wie Marion und Art all jene Touristenattraktionen wieder ablaufen, die sie vor 30 Jahren während ihrer Flitterwochen besucht haben. Eine ausgesprochen ernüchternde Erfahrung, die es dem Schriftsteller erlaubt, die sehr unterschiedlichen Charaktere seiner beiden Protagonisten hervorzuheben. Während Art drauf hofft, dass die Erinnerung an die alten Zeiten die Liebe wieder erweckt, ist Marion von allem genervt, möchte Reise, Roulette, finanziellen Ruin endlich hinter sich haben.
    "Marion ist sich nicht ganz sicher, aber sie glaubt, dass sie die Trennung will. Sie denkt, das war's, und sie hält das für eine günstige Gelegenheit, aus der Ehe bequem auszusteigen. Sie will keine große schmutzige Trennung. Sie glaubt: Okay, wir werden das Geld verlieren und als Folge davon kann ich die Ehe verlassen. Denn wenn sie das Geld verlieren, dann werden sie sich allein schon aus steuerlichen Gründen trennen müssen. Marion ist ein bisschen zurückhaltend. Sie scheint von ihrem Leben enttäuscht zu sein, insbesondere jetzt, wo sie aus mittlerem Lebensalter zurückschaut. Sie ist in vielerlei Hinsicht ehrlich, aber realistisch. Sie ist von den beiden die Realistischere."
    So macht sie bei allem, wenn auch etwas widerwillig mit. Dazu trägt sicherlich auch ihr schlechtes Gewissen aufgrund ihres nie gebeichteten Seitensprungs mit bei. Dass sie ihn weiterhin verschweigt, verschafft ihr einen moralischen Vorteil gegenüber ihrem Mann. Der gibt sich zerknirscht, will die Ehe retten, trauert aber tief in seiner Seele der Ex-Geliebten doch hinterher.
    "Art ist ganz bestimmt der Träumer, der Pläneschmied, auch wenn er ebenfalls enttäuscht ist, weil er geglaubt hat, dass die Dinge besser laufen. Er hegt immer noch verrückte Hoffnungen in der Hinsicht. Er ist der Romantische von den beiden. Er ist der typische amerikanische Mann, der an den amerikanischen Traum glauben möchte, Haus, Auto, gutes Leben. Wenn man hart arbeitet, dann wird man vorankommen. Alles in seinem Leben hat ihm gezeigt, dass das nicht stimmt. Dennoch glaubt er weiter daran. Das geht sogar so weit, dass er optimistischerweise annimmt, dass sie gewinnen werden, wenn sie das Geld auf den Spieltisch packen und dass das irgendwie die Ehe verändern wird und sie wieder glücklich sein werden. Er glaubt an das Glück, glaubt an den Erfolg, selbst wenn direkt vor ihm alles dagegen spricht. Er glaubt dennoch daran. Er ist bis ganz zum Ende sehr optimistisch."
    Roman erinnert an ein Theaterstück
    Wer nun einen Spielerroman erwartet, wird enttäuscht. Stewart O'Nan hat sich die entscheidende Casinoszene ganz für das Ende aufgehoben, als Höhepunkt und Schlusspunkt seiner Geschichte dieser Ehekrise. Ihm geht nicht wirklich um das Spielen, auch wenn seine Kapitelüberschriften mit Wahrscheinlichkeiten spielen wie zu Beispiel: Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar eine zweite Hochzeitsreise zum selben Ort unternimmt: 1:9 oder Wahrscheinlichkeit, dass einen verheiratete Frau eine Affäre hat: 1:3. Im Mittelpunkt des Buches steht die angeknackste Beziehung der beiden. Stewart O'Nan zeigt, wie sie sich streiten und versöhnen, aber beide vor echter Konfrontation zurückschrecken. Hier wird kein Rosenkrieg ausgetragen.

    Der Roman erinnert an ein Theaterstück, ein Zwei-Personen-Schauspiel, bei dem die übrige Umwelt, Kinder, Freunde, Bekannte ausgeblendet sind, sich alles nur auf die beiden konzentriert, ihre kleinen Scharmützel, seine Befriedungsversuche, ihre Sticheleien. Situationen, wie sie jedes ältere Ehepaar zu genüge kennt:
    "Ich muss mein Kleid noch bügeln. Hoffentlich gibt's ein Bügeleisen.'
    "Müsste es eigentlich."
    "Müsste, wenn man's wüsste", sagte sie.
    Zwei vom Leben erschöpfte und enttäuschte Menschen
    Das war ein Running Gag zwischen ihnen, eine spöttische Anerkennung der Tatsache, dass sich auch auf die schlechteste Hoffnung nicht bauen ließ, war eine spontan geäußerte Phrase wie so viele andere, die, in Lieblingsfilmen oder Fernsehsendungen aufgeschnappt, als mechanischer Ersatz für Gespräche dienten und sie beide wie eingesperrte Zwillinge zusammenschweißten, von denen jeder des anderen bester und zumeist einziger Zuhörer war. Obwohl sie es im Lauf der Jahre schon hunderte Male zueinander gesagt hatten, unterwegs zu Abschlussfeiern, Hochzeiten oder Beerdigungen, und Marions Skepsis eine alte, ziemlich gedankenlos ausgesprochene Gewohnheit war, nahm er es an diesem Abend persönlich, weil er es als seine Aufgabe ansah, durch eine forsche, gewagte Tat alles wiederzuerlangen, was sie verloren hatten."
    Vor allem Art hofft, Marion wieder für sich zu gewinnen, will es ihr ständig recht zu machen. Wir erleben zwei vom Leben erschöpfte und enttäuschte Menschen, die sich vom Partner mehr erwartet hatten und doch nicht voreinander lassen können. Das hat eine Menge komischer Seiten und eben die hatte Stewart O'Nan, selbst seit Ewigkeiten verheiratet, durchaus im Sinn.
    "Vieles ist sehr amüsant, eine Gesellschaftskomödie. Ich wollte ein leichteres Buch schreiben. Selbst wenn wir uns dieses schwere und große Thema anschauen, wollte ich doch, dass es oberflächlich lustig und auch ein bisschen ironisch ist. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre persönlichen Witze. Solange sie nicht übereinander sprechen, geht es ihnen sehr gut, dann kommen sie gut miteinander klar. Sie beenden einer den Satz des anderen, kennen einander in-und-auswendig und ich hoffe, dass bekommt auch der Leser mit. Jeder, der - sagen wir mal - mehr als zehn Jahren verheiratet ist, wird all diese kleinen Dinge wiedererkennen und wie sie miteinander auskommen. Eigentlich sind sie in vielerlei Hinsicht gut zueinander."
    Vielleicht muss man wirklich erst die 50 überschritten und eine Menge Lebenserfahrung gesammelt haben, um eine so leichtfüßige Komödie über eine Ehekrise schreiben zu können, die, das darf hier verraten werden, wie ein Märchen endet. Das nimmt dem Roman weder seine innere Dynamik noch das bisweilen zwiespältige Vergnügen, Vertrautes wiederzuerkennen. Ein gelungener Roman über eine nicht gänzlich misslungene Ehe.
    "Er glaubt an das Glück, selbst wenn alles dagegen spricht "
    Der amerikanische Schriftsteller Stewart O'Nan über seinen Roman "Die Chance"
    Übersetzung: Thomas Gunkel, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2012, 224 Seiten, 19,95 €