Donnerstag, 25. April 2024

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Roman Ehrlich und Michael Disqué: "Überfahrt"
Im Maschinenraum der Globalisierung

40 Tage lang haben sich zwei Künstler in die Selbstisolation eines Containerschiffs von Hamburg nach Qingdao begeben. "Überfahrt" ist ein Text-Bild-Essay über die banale Realität des globalisierten Welthandels und über den Ich-Verlust auf einer anti-abenteuerlichen Weltreise.

Von Cornelius Wüllenkemper | 10.07.2020
Blick über ein Container-Schiff der Firma CMA CGM.
Roman Ehrlich und Michael Disqué waren 40 Tage an Bord eines Containerschiffs (AFP / Jean-Sebastien Evrard)
Was gibt es zu erzählen von einer Weltreise, auf der jeder zurückgelegte Meter geplant, der Lebensalltag von einer Zentrale streng koordiniert wird, und obendrein auch die Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt ist? Auf ihrer Überfahrt an Bord eines 365 Meter langen und mit 13.800 Warencontainern beladenen Ozean-Riesens verzichten der Fotograf Michael Disqué und der Schriftsteller Roman Ehrlich bewusst auf dramatische und exotische Narrative der Seefahrt. Stattdessen geben sich die beiden Künstler der Leere hin – und dem, was sich womöglich hinter ihr verbirgt. Roman Ehrlich:
"Dieses Containerschiff ist ja so ein industrialisierter Arbeitsplatz in einer Miniaturversion und in Reinform. Er ist ja eigentlich hochgradig unmenschlich. Es gibt diesen Stahlturm in der Mitte des Schiffes, in dem die Leute wohnen und arbeiten, wenn sie jetzt nicht gerade im Maschinenraum arbeiten oder irgendwie an Deck schleifen und streichen. Und in dem halten die sich permanent auf und haben keinen Kontakt."
Seefahrt ohne Abenteuer
Die Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem kalten Koloss aus Stahl stellen dabei nicht nur gesichert geglaubte Zuschreibungen und Selbstbilder aus dem eingeübten Alltag an Land infrage. Roman Ehrlich gleicht seine eigenen Erwartungen an diese Weltreise mit den klassischen Narrativen der Seefahrt ab und stellt fest: Der globalisierte Handel auf den Weltmeeren ist vor allem unspektakulär. Roman Ehrlich erklärt:
"Es ist eben kein Abenteuer. Man ist nicht vom Kurs abgekommen, man ist keinen Ungeheuern begegnet, es gab keine Meuterei, es gab keinen irren Kapitän, es gab keine Piraten. Es war die Banalität dieser Arbeitsverhältnisse, die gerade was die Zeitarbeiter auf dem Schiff angeht, unfassbar sind."
Bilder von einem "Nicht-Ort"
Die sechs Kapitel des Essays sind in Text- und Bildblöcke unterteilt und mit kurzen Zitat-Passagen aus der Reiselektüre der Künstler versehen. Im Abschnitt "Fiktion" sammelt Roman Ehrlich Seemannsgeschichten, die er der Mannschaft des Containerschiffs in den Mund legt, bis Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr eindeutig zu trennen sind. Im Kapitel "Jean-François de la Pérouse" spürt er dem französischen Seefahrer nach, der dem Stahlkoloss seinen Namen gab und stellt dessen rastlose Entdeckungsfahrten der statischen Immobilität der modernen Containerschifffahrt gegenüber. Ein eigenes Kapitel ist den Karaoke-Abenden der Mannschaft gewidmet. Als teilnehmender Beobachter erlebt Ehrlich sie als einziges Zugeständnis an Emotion und Sinnlichkeit auf der kalten schwimmenden Fabrik. Nach und nach enthüllt der Autor eine zentrale Erkenntnis: Die modernen Seefahrer, die Erfüllungsgehilfen der Konsum-Globalisierung, sind Menschen ohne Geschichten:
"Die Sprachlosigkeit, von der die Seeleute nach mehreren monatelangen Aufträgen auf den Containerschiffen befallen werden, wird als Konsequenz der ewigen Wiederholung des Selben beschrieben: Es gibt, abgesehen von den Zahlen, die täglich an die Reederei übermittelt werden, nichts zu berichten. Mit jedem neuen Tag auf See, der in völliger Gleichförmigkeit zum vorigen und nächsten vergeht, verringert sich die Möglichkeit, überhaupt noch über diesen Alltag sprechen zu können."
Der Welthandel präsentiert sich den beiden Künstlern als gänzlich ungreifbar, als abstraktes Konzept. Nicht einmal der Inhalt der Container ist der Mannschaft bekannt. An Bord ist jeder Handgriff und auch jede Minute der Freizeit geregelt, alles ist funktional, anonym, standarisiert. Michael Disqué fotografiert diesen klassischen "Nicht-Ort" ohne Identität, ohne Geschichten und soziale Beziehungen in scheinbar zufällig eingefangenen Ausschnitten einer vermeintlich bedeutungslosen Szenerie.
Die Künstler Roman Ehrlich und Michael Disqué und ihr Buch "Überfahrt"
Die Künstler Roman Ehrlich und Michael Disqué und ihr Buch "Überfahrt" (vlnr: Foto Roman Ehrlich: Michael Disqué, Foto Michael Disqué: Nea Schiedeck,Buchcover: Spector Books)
"In der Langeweile entsteht das, was ich suche"
Rostflecken, die das unerschöpfliche Reservoir an Salzwasser in die Außenhaut des Schiffes gefressen hat. Die achtlos auf dem Boden hinterlassene Arbeitskleidung eines Besatzungsmitglieds. Aseptisch-kalte Lebens- und Aufenthaltsräume der Mannschaft. Und immer wieder die unendliche blaue Weite des Meeres, in der nichts in Sicht ist. Michael Disqués Motive biedern sich nicht an, sie wollen von nichts überzeugen, sondern sich langsam entdecken lassen.
Michael Disqué: "Wenn ich da draußen rumgelaufen bin, und das Meer war immer noch blau, der Himmel war immer noch blau, wie schon seit fünf Tagen, dann ist das natürlich eine gewisse Langeweile. Aber dann guckt man eben auch genau hin. Dann sieht man eben plötzlich den Rostfleck auf dem Boden, den man vorher nicht gesehen hat. Da entstehen die tollen Sachen. Da entsteht das, was ich suche. Die Geschichte erzählt sich von alleine."
Die Globalisierung erzählt keine Geschichten
So wie Michael Disqué mit seiner dezenten Fotografie tastet auch Roman Ehrlich in mäandernden Sätzen nach den verdeckten Spuren der Realität. "Überfahrt" ist eine vielschichtige Selbstbeobachtung, in der die beiden Reisenden sich stets bewusst sind, dass sie nicht einfangen, was ist, sondern nur das abbilden, was sie subjektiv wahrnehmen:
"Die Bewegung der Scheibe des Meeres, wie sie sich den beiden Künstlern auf der vordersten Spitze des Schiffes darstellt, der Versuch der Beschreibung der Wahrnehmung, der immer wieder hilflos abgleitet in den Vergleich, das beständige Fließen unter und neben dem Schiff, bei gleichbleibender, unbewegter Horizontlinie, starr wolkenlos und blau darüber gewölbter Himmelskuppel, den fest verankerten Containertürmen in ihrem Rücken, wirft die beiden Künstler, wie sie da stehen und schweigen, auf sich selbst zurück. Die Gedanken gehen dahin über die weite Fläche ohne Widerstand und es kommt nichts zurück als Rauschen der Bugwellen, Dröhnen der Motoren und Fauchen der Ventilatoren in den Luftschächten."
Der Alltag der Globalisierung erzählt keine Geschichten, so lautet der Tenor dieser ebenso poetischen wie mikroskopisch genauen fotografisch-literarischen Betrachtung. Wie hier die Gegensätze von stetiger Bewegung und gleichzeitigem Stillstand, von Erwartung und Wirklichkeit von Losgelöstheit und Gefangenschaft an Bord gegeneinander aufgerechnet werden, ist schlicht beeindruckend. Denn erst die Reflektion durch den Menschen und die Einbettung in seine Geschichten verleiht der zutiefst unspektakulären Transportbewegung der Warenmassen eine Bedeutung.
Roman Ehrlich (Text), Michael Disqué (Fotos): "Überfahrt"
Spector Books, Leipzig. 336 Seiten, 22 Euro.