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Roman einer Reise

Im November 1933 macht sich Patrick Leigh Fermor, ein 18-jähriger Brite aus gutem Hause, zu Fuß auf den Weg nach Konstantinopel - und durchmisst das Europa kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Zwei Jahre nach dem Tod Leigh Fermors erscheint der abschließende Band seiner Reiseerinnerungen.

Von Michael Schmitt | 02.10.2013
    Zu den größten Freuden seiner Wanderung quer durch Europa habe die Gewissheit gehört, dass oft "niemand auf Erden wusste, wo ich war" – manchmal habe er selbst es auch nicht gewusst. So heißt es im dritten Band der Reiseerinnerungen, die Patrick Leigh Fermor seinem legendären Fußmarsch von Hoek van Holland bis Konstantinopel gewidmet hat, und er zögert nicht, gleichzeitig zu gestehen, wie anstrengend diese Einsamkeit in manchen Momenten ebenfalls gewesen sein muss. Sechsunddreißig Jahre sind vergangen, seit der erste Band erschienen ist; fünfzig Jahre seit einer ersten langen Manuskriptfassung; und bis auf ein paar Wochen genau achtzig Jahre seit den ersten Schritte des damals 18-jährigen Briten aus guter Familie, dem die Disziplin von Schulen oder Kadettenanstalten nicht lag, und der sich deshalb im November 1933 mit einem Rucksack und einem Wanderstab auf den Weg machte, am Rhein entlang, durch Süddeutschland und Österreich, zur Donau und über den Balkan bis an die Grenze Europas.

    Zwei Jahre nach dem Tod Patrick Leigh Fermors erscheint der dritte und abschließende Band der Erinnerungen nun gleichzeitig in Englisch und in einer deutschen Übertragung von Gabrielle Kempf-Allié und Manfred Allié. Unübersehbar haben sich die Jahrzehnte als vergangene und als erinnerte Zeit in die Erzählung hineingeschrieben. Nicht nur, weil Patrick Leigh Fermor ein Europa durchwanderte, das es so heute nicht mehr gibt, sondern weil das Erzählen selbst – immer schon, aber im dritten Band mit neuer Intensität – ein Problem für den Verfasser gewesen ist, ein mühevoller Prozess des Erinnerns, nachdem die meisten seiner Tagebücher, die er geradezu leidenschaftlich geführt hatte, schon während der Reise verloren gegangen und nicht wieder aufgetaucht sind.

    Fermors Leitfrage: Wie verhält sich das Dargestellte zum Erlebten?
    Von "Die Zeit der Gaben", 1977, über "Zwischen Wäldern und Wasser", dem zweiten Buch von 1986, bis zum aktuellen Band "Die unterbrochene Reise" überlagern und vermischen sich daher konkrete Erinnerungen an Orte und Menschen mit dem nachträglich eingewobenen Wissen um kulturelle Traditionen und historische Zusammenhänge, manchmal auch mit Exkursen, die auf spätere Besuche am gleichen Ort zurückgehen. Das beginnt wie nebenbei schon im ersten Band, in dem Patrick Leigh Fermor gelegentlich darauf hinweist, wie viel von dem, was er etwa in Rotterdam oder anderenorts besichtigen konnte, wenige Jahre später im Zweiten Weltkrieg untergehen wird. Oder, wenn er anlässlich seines Aufenthaltes in Wien einen kurzen Absatz einschiebt, der von den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Armee auf der einen und Sozialdemokraten auf der anderen Seite im Februar 1934 bis zum Anschluss an Hitlerdeutschland im Jahr 1938 führt. Das setzt sich fort, wenn er als junger Mann selbst in den alten Schlössern an der Donau den patinösen, verblassenden Glanz der untergegangenen K.u.K.-Herrlichkeit registriert. Und es gipfelt in dem nun vorliegenden abschließenden Band in der permanenten Beschäftigung mit der Frage, wie sich seine Darstellungen überhaupt zu dem verhalten, was er seinerzeit erlebt hat, zu den Lücken in der Erinnerung oder zu manchen Details in den wenigen verbliebenen Aufzeichnungen.

    "Die unterbrochene Reise" ist eine Spielart der Suche nach der verlorenen Zeit, nicht in Pariser Salons oder in Cambrai, sondern in Wirtshäusern und alten Schlössern, in Städtchen wie Tarnowo oder Rustschuk, unter Hirten und Studenten oder zwischen Boheme-Cliquen in Bukarest. Aber anders als die beiden früheren Bücher erscheint dieser Band nicht als abgerundeter, geschlossener Text -- Patrick Leigh Fermor hat zwar im hohen Alter und bis kurz vor seinem Tod daran geschliffen, er hat aber, nahezu erblindet immer nur mehr mühsam Wort für Wort und Zeile für Zeile eines 1963 erstmals entstandenen Manuskripts überarbeitet und ausgeweitet. Er hat diese neue Fassung auch nicht mehr beenden können, sie bricht kurz vor der Ankunft in Konstantinopel ab, mitten im Satz, nach einem eindringlichen, mitreißenden Kapitel über Tanz und Musik von Hirten und Fischern an der Schwarzmeerküste, über die Melange von Vitalität und Melancholie, die in den Klängen und Tanzfiguren am Rande Europas stecken.

    Differenz zwischen spontanem Staunen und gewobenem Text
    Hinzugefügt haben die Herausgeber Colin Thubron und Artemis Cooper zudem die Transkription des sogenannten "grünen Tagebuchs" von Januar und Februar 1935, in dem Patrick Leigh Fermor seinen Aufenthalt in den Klöstern auf dem Berg Athos beschreibt. Deutlicher als an den wenigen Stellen in den vorangegangenen Bänden, in denen Patrick Leigh Fermor gelegentlich auch eigene Notizen von 1933/34 zitiert, erkennt man an diesen rund einhundert in sich geschlossenen Seiten, welche Unterschiede zwischen den Skizzen des jungen Wanderers und den späteren Ausformulierungen eines großartigen Stilisten bestehen. Es ist die Differenz zwischen dem spontanem Staunen des erlebten Moments und einem kunstvoll aus vielen Sprachregistern gewobenen "Roman einer Reise", der nach Jahrzehnten durch Wehmut, Bildung, Lebenserfahrung und zuletzt auch noch durch das Altern seinen ungeheuren Reichtum erhält.

    Nach seiner Reise ist Patrick Leigh Fermor für ein dauerhaftes Leben unter alltäglichen europäischen Bedingungen verloren – und erwirbt dennoch, sozusagen, den Rang von britischem "Weltkulturerbe". Er wird zum Kriegshelden, als er auf Kreta im Untergrund gegen die deutschen Besatzungstruppen kämpft und in einem riskanten Handstreich einen der deutschen Divisionskommandeure kidnappt. Und er baut sich ein Haus auf dem Peleponnes, wo er jenes kargere, aber gastfreundliche Leben führen kann, das er auf seinen Reisen schätzen gelernt hat: Von den ersten Seiten in "Die Zeit der Gaben" bis zu den letzten Absätzen der "Unterbrochenen Reise" sind seine Bücher nämlich ein einziges Loblied auf jene vorbehaltlose Gastfreundschaft, auf die er während seiner Wanderung nahezu überall vertrauen konnte, am Rhein genauso wie in Transsylvanien. Mit wenig mehr als schmutziger und abgenutzter Kleidung, mit derben Schuhen und Wickelgamaschen fand er dennoch an fast allen Orten offene Türen, ein Bett zum Schlafen und warmes Essen. Und darin – ebenso wie in dem ununterbrochenen Rückgriff auf eine gesamteuropäische Kultur – liegt das utopische Potential dieses Berichts über eine achtzig Jahre zurückliegenden Wanderung.

    Patrick Leigh Fermor: "Die unterbrochene Reise. Vom Eisernen Tor bis zum Berg Athos. Der Reise dritter Teil."
    Herausgegeben von Colin Thubron und Artemis Cooper. Deutsch von Gabrielle Kempf-Allié und Manfred Allié. Dörlemann Verlag, Zürich 2013, 464 Seiten.