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Roman "Ellbogen"
Dieser Tritt bin ich

Fatma Aydemirs Debütroman "Ellbogen" ist eine sehr wütende Geschichte: Hazal, eine junge Frau mit türkischen Eltern, aufgewachsen in Berlin-Wedding, holt zum schockierenden Befreiungsschlag aus. Ihre Erzählstimme hallt lange nach: naiv-abgebrüht, ebenso rotzig wie zart.

Von Antje Deistler | 06.02.2017
    Der Leopoldplatz mit Rathaus im Berliner Stadtteil Wedding.
    Der Leopoldplatz mit Rathaus im Berliner Stadtteil Wedding. (Imago / Jürgen Ritter)
    Es ist eine Geschichte von Entfremdung und Abgeschnittensein und vor allem eine sehr wütende Geschichte, die Fatma Aydemir erzählt. Hazal wird gerade 18. Sie ist, was man früher ein Gastarbeiterkind genannt hätte und heute als junge Frau mit Migrationshintergrund bezeichnet. Geboren und aufgewachsen im Berliner Wedding. Der Vater verlangt Gehorsam, auch mit Prügel. Die Mutter schweigt und dröhnt sich mit Psychopharmaka zu. Hazals jüngerer Bruder Onul macht kleinkriminelle Deals und darf sich zuhause wie der King aufführen, während sie allen Tee, Çai, servieren muss. Aber Hazal hat noch ihre Freundinnen Gül und Elma, mit denen sie kiffen, trinken, lästern, sich aufdonnern und durch Berlin ziehen kann.
    "Wir steigen an der Friedrichstraße aus und laufen durch den Pissegeruch hoch zum S-Bahnsteig. Mehrere Gruppen stehen mit Bierflaschen herum und unterhalten sich laut über Merkel und Mietpreise. Links von uns sprechen drei Typen und ein Mädchen eine Sprache, die sich wie Spanisch anhört oder Italienisch. Das Mädchen trägt ein buntes Hippiekleid und hat einen viel zu kurzen Pony. Sie flirtet in alle Richtungen, es ist nicht klar, auf wen sie steht. Sie könnte jeden der Typen haben. Vielleicht steht sie aber einfach nur auf sich selbst."
    Wie Fatma Aydemir diese Figur heraufbeschwört, das ist sensationell. Ihr genügen wenige Sätze, um Menschen zu beschreiben, Lügen zu sezieren oder Verzweiflung und Frust spürbar zu machen. Und das in einem ganz eigenen Ton. Hazal erzählt mit Witz, aber auch unterschwellig aggressiv und immer treffend.
    "Mein Vater hasste es, wenn ich Dinge vergaß. Aber noch mehr hasste er es, wenn ich bei Güls Familie abhing. Draußen mit Gül abhängen war okay, und bei mir zu Hause auch, aber nicht bei Gül. Gül ist nämlich Alevitin. Und angeblich haben in alevitischen Familien alle Sex miteinander, also Bruder mit Schwester und Vater mit Tochter. Das ist natürlich Bullshit, aber meine Eltern glauben das aus irgendeinem Grund. Und ich habe es ihnen nie richtig ausreden können. Weil sie sich an allem, was sie glauben, krampfhaft festhalten, wie dieses Eichhörnchen aus "Ice Age" an seine Haselnuss."
    Das trügerische Versprechen der Volljährigkeit
    Hazal sitzt in der Falle, und das weiß sie genau. Ihren 18. Geburtstag will sie in einem schicken Klub feiern. Dabei ahnt sie, dass ihr die Volljährigkeit nicht viel bringen wird.
    Sie wird sich weiter in der Familie unterordnen müssen. Mit der Schule ist sie fertig, hat aber auch nach 50 Bewerbungen keinen Job gefunden. Dabei wollte sie mal Ärztin werden. Dass sie bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hat, darüber informiert die Ich-Erzählerin so beiläufig, dass es umso stärker wirkt.
    "In der S-Bahn erzählen wir einander bescheuerte Geschichten aus der Schulzeit. Wie Gül aus dem Unterricht geflogen ist, weil sie in Mathe zu Herrn Lenz gesagt hat, er soll ihr nicht auf die Titten starren. Oder wie Elma angeblich dabei gesehen wurde, wie sie Drogen im Blumenkübel versteckt hatte, und der Rektor unseren Hausmeister alle Kübel ausschütten und die ganze Erde durchsuchen ließ. Er fand natürlich nichts, aber seine Arme sahen danach aus wie angeschissen. Oder wie ich nach meinem ersten Selbstmordversuch mit kurz geschorenen Haaren und hässlichen Seidentüchern um meine Handgelenke gewickelt zum Sportunterricht kam und unsere lesbische Sportlehrerin, die Eso-Mayer, meinte: Das ist ja ein toller Look, Hazal!"
    Der große Abend wird zu einer einzigen großen Enttäuschung. Voller Erwartung stehen Gül, Elma und Hazal vor dem Klub Schlange, nur um am Ende vom Türsteher abgewiesen zu werden. Weil sie Kanaken sind, davon sind die Mädchen überzeugt. Die Partylaune implodiert. Zurück in der U-Bahn, kommt es zum Befreiungsschlag für Hazal. Ein plötzlicher, schockierender, gemeinsamer Ausbruch von Gewalt.
    "Ich renne auf ihn zu und will den Studenten umwichsen, aber er hält sich an mir fest. Es ist wie eine erzwungene Umarmung von der Seite, ich spüre seinen Atem in meinem Gesicht. Eine von den beiden zerrt wohl an ihm, denn sein Griff wird lockerer. Ich löse meinen Ellbogen und ramme ihn in seinen Magen. Elma wirft ihn auf den Boden. Er landet auf den Knien. Mein Fuß tritt ihm ins Steißbein. Dieser Tritt, das bin ich."
    Ein verstörender Satz und ein Befreiungsschlag, der alles noch viel schlimmer macht.
    Hazal flieht nach Istanbul. Hier hat Fatma Aydemir vergangenen Sommer an ihrem Roman geschrieben. Sie war dort, als sich am 15. Juli 2016 der Putschversuch ereignete. Die Autorin lässt Hazal mitten hinein geraten, was nicht nur dem Roman eine unerwartete Aktualität verleiht, sondern dem angestrebten Ende der Geschichte ein passendes Setting beschert.
    "Das war sehr beängstigend, ein halbtraumatisches Erlebnis, auch wenn ich nur zuhause war, aber die Sounds der Jets zu hören und die Schüsse, das reicht einem auch schon. Gleichzeitig war es ein glücklicher Umstand. So ein Putschversuch steht auch total metaphorisch für so einen gescheiterten Befreiungsschlag, ohne jetzt den Putsch positiv konnotieren zu wollen, aber es wird ein Umsturz angestrebt, der scheitert."
    Klassenkluft auch in Istanbul
    Doch vorher gewinnt Hazal, die kaum Türkisch spricht, eine bittere Erkenntnis. In Deutschland hatte sie sich aufgrund ihrer deutsch-türkischen Identität ausgegrenzt gefühlt und oft voller Abscheu von den deutschen Kartoffeln gesprochen. Oder sie war gegenüber blonden Ärztetöchtern aggressiv geworden. In Istanbul begegnet sie einer gebildeten jungen Türkin, Gözde, mit der sie genauso wenig verbindet wie mit den Mädchen aus den besseren Vierteln Berlins. Fatma Aydemir:
    "Als sie nach Istanbul geht, merkt sie, ok, das hat gar nicht unbedingt mit dem Türkischsein zu tun, denn die Türkei öffnet jetzt doch nicht die Arme und sagt Herzlich Willkommen, sondern da ist es auch total schwer. Zum einen, weil ich vielleicht nicht in den kulturellen Codes drin bin, zum anderen aber auch die Begegnung mit Gözde, die macht einiges klar. Dass unabhängig von der ethnischen Herkunft auch diese Klassenkluft eine Rolle spielt."
    Fatma Aydemir hat studiert, Germanistik und Amerikanistik. Sie ist nicht in Wedding aufgewachsen, sondern in Karlsruhe. Glück hat sie gehabt, sagt sie. Aber sie kenne natürlich viele Mädchen wie Hazal, sie teilt ihre Wut. Privilegiert fühlt sie sich nicht.
    "Was ich erstaunlich finde, ist, dass meine Biografie immer thematisiert wird, als hätte ich so ein Traumleben, als hätte ich es geschafft als Journalistin. Ich werde auch von 16-jährigen Cousins gefragt, was ich denn verdiene. Und wenn ich das offenlege, dann gucken die mich an und fragen: Du hast sechs Jahre studiert und gehst jeden Tag arbeiten. Und du versuchst, mit dem Geld zu überleben, wie ist das möglich? Und sind eher der Meinung, dass es vielleicht lukrativer wäre, einen Kiosk zu eröffnen, als Literaturwissenschaften zu studieren."
    Bildung ist längst kein Versprechen auf ein besseres Leben mehr, das weiß Fatma Aydemir. Und für die kratzbürstige Hazal kommt Rettung sowieso nicht infrage. Auch nicht mithilfe ihrer Tante Semra, der einzigen in der Familie, die studiert hat. Hazal zieht ihr Ding durch, auch wenn es nur noch bergab geht.
    "Und Semra erst, die sich für so übertrieben klug hält und dann bis nach Istanbul fliegt, um mir zu sagen, ich soll mich den Bullen stellen. Ich soll mich wohl entschuldigen und verschämt auf meine Schuhe starren. Aber die arme Semra, was soll sie schon sagen. Sie weiß es ja nicht besser, sie ahnt nicht, dass Scham viel beschissener ist als Angst. Dass Scham einem den letzten Verstand rauben kann."
    Das Ende des rasanten Trips kommt nach 270 Seiten. Und es ist genau richtig, aber man hasst es. Denn man möchte dieser authentischen, zornigen, abgebrüht-naiven Stimme noch viel länger zuhören. "Ellbogen" trifft einen wie eine Ohrfeige zum Wachwerden. Der jungen deutschen Literatur kann das nicht schaden.
    Fatma Aydemir: "Ellbogen"
    Hanser Verlag München, 270 Seiten, Preis: 20 Euro