Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Roman Herzog und die Erinnerungskultur
"Der 27. Januar stellt den Holocaust ganz ins Zentrum"

In seinen Reden mahnte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog immer wieder vor dem Vergessen der Verbrechen des Nationalsozialismus. Mit der Ernennung des Tages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zu einem offiziellen Gedenktag habe Herzog neue Schwerpunkte in der Erinnerungskultur gesetzt, sagte der Historiker Norbert Frei im DLF.

Norbert Frei im Gespräch mit Anja Reinhardt | 10.01.2017
    Zwei Frauen unterhalten sich am Freitag (26.01.2007) im Ort der Information unter dem Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals in Berlin.
    Holocaust Mahnmal in Berlin (dpa/ picture alliance/ Rainer Jensen)
    Anja Reinhardt: Die große Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist nicht schuld an Auschwitz, aber natürlich, auch sie ist in besonderem Maße verantwortlich dafür, dass sich so was wie Auschwitz und Holocaust nicht und niemals wiederholt.
    Das sagte Roman Herzog 1999 – und auch, wenn seine Rede vom Ruck, der durch Deutschland gehen müsste, berühmter ist – der ehemalige Bundespräsident hat immer wieder gemahnt, der Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus dürften nicht in Vergessenheit geraten. Heute ist Roman Herzog im Alter von 82 Jahren gestorben und damit auch eine wichtige Stimme für die Erinnerungskultur. Ich konnte vor der Sendung mit dem Historiker Norbert Frei über Roman Herzog sprechen und habe ihn als erstes gefragt, wie wichtig diese Reden von Roman Herzog damals in den 90er-Jahren waren.
    Norbert Frei: Diese Rede war natürlich wichtig, einfach das zu bekräftigen, was auch schon Bundespräsidenten vor ihm gesagt haben. Aber ich denke, seine eigentliche Leistung auf dem Feld der, was wir heute Erinnerungspolitik nennen und was sich in den 90er-Jahren doch massiv und raschen Schrittes eigentlich entfaltet hat, liegt woanders, nämlich darin, dass er den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zum Gedenktag, zu einem offiziellen Gedenktag erhoben hat.
    "Der 27. Januar stellt den Holocaust ganz ins Zentrum"
    Reinhardt: War man in den 80ern noch nicht so weit? Richard von Weizsäcker, Bundespräsident nicht direkt vor ihm, aber vor ihm eben, hat den 8. Mai als Tag der Befreiung erklärt. War das noch den 80er-Jahren geschuldet? Es gab noch den Historikerstreit, der danach kam. War man noch nicht so weit in den 80er-Jahren?
    Frei: Ja, die Vergangenheitsbearbeitung und Aufarbeitung hat sich in der Tat auch in diesem Jahrzehnt noch weiter entwickelt. Und das, was Richard von Weizsäcker damals sagte, was wichtig war, für viele Historiker längst eine Selbstverständlichkeit, aber für die politische Öffentlichkeit doch sehr bedeutsam, für die Gesellschaft der Bundesrepublik sehr bedeutsam, das bezog sich auf das Kriegsende, wenn Sie so wollen auf die Erfahrung der übergroßen Mehrheit der Deutschen. Der 27. Januar stellt ganz ins Zentrum den Holocaust, stellt ganz ins Zentrum die Überlebenden des Holocaust, und insofern ist das schon eine Akzentverlagerung und auch eine neue Schwerpunktsetzung, die dann ja auch in der Erinnerungskultur zu diesem Zeitpunkt sehr wohl stattgefunden hat.
    Reinhardt: Weil man das Wort Befreiung ja auch durchaus kritisch sehen kann und mit Auschwitz natürlich auch noch mal, wie Sie ja eben sagten, genau dieser Genozid auch hervorgehoben wird.
    Frei: Natürlich. Befreit worden sind, wenn man das wirklich sich genauer anschaut, befreit fühlen konnten sich am 8. Mai vor allem die Verfolgten und Überlebenden des Nationalsozialismus. Für sehr viele Deutsche war es in erster Linie erfahrungsgeschichtlich in diesem Moment, in dieser Situation eine Niederlage, womöglich auch für den damals gerade elfjährigen Roman Herzog, denn er ist in die NS-Zeit hinein als ganz junger Mann - er konnte für nichts selbstverständlich etwas - hineinsozialisiert und musste ja auch erst mal aus diesen "großen Zeiten" nüchtern herauswachsen. Das ist ein ganz typisches Phänomen auch für seine Generation.
    Reinhardt: Nun gab es ab 1986 den Historikerstreit, ausgelöst von Ernst Nolte, dem dann von Jürgen Habermas vorgeworfen wurde, er würde den Holocaust verharmlosen. Sehen Sie da irgendeine Verbindung noch bis in die 90er-Jahre zu den Reden von Roman Herzog? Stehen die quasi in der direkten Folge dieses Historikerstreits?
    Frei: Nein. In der direkten Folge sehe ich das nicht mehr. Da ist dann doch schon zu viel an Diskurs dazwischen. Aber natürlich kann man das, was an Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit nach 1985/86 stattfindet, nicht mehr ohne diese Geschichte des Historikerstreits sehen. Aber viel wichtiger Ende der 90er-Jahre ist dann natürlich eine weitere Zäsurmarke die Friedenspreisrede von Martin Walser, in der er seinem Unmut, seinem Unwillen darüber Ausdruck gibt, wie sehr der Holocaust ins Zentrum gerückt worden ist in den vorangegangenen Jahren und er ja auch sogar von der Auschwitz-Keule spricht. Dann kann man die Rede ein Jahr später von Roman Herzog natürlich auch als eine Form der Antwort darauf verstehen, zumal er ja wie gesagt wenige Jahre vorher genau derjenige Bundespräsident ist, der diesen Gedenktag tatsächlich etablierte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.