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Roman "Neun Tage in Lissabon"
Die Abgründe der Liebe

Hervé Le Tellier ist Mitglied der legendären Schriftstellergruppe OULIPO, der "Werkstatt für potenzielle Literatur". Damit ist garantiert, dass sein Roman "Neun Tage in Lissabon" mit zahllosen literarischen Querverweisen aufwartet. Es ist sein dritter Roman über die Liebe, "die Hauptsorge des Menschen", wie Le Tellier sagt.

Von Christoph Vormweg | 21.03.2014
    Wer liebt hier wen und wie sehr? Welche Liebe ist echt, welche nur gespielt, welche bloß ein Hirngespinst? Hervé Le Tellier ist ein Kenner der Materie. Schon sein erster ins Deutsche übersetzter Roman "Kein Wort mehr über Liebe" beschreibt eine ausgeklügelte Beziehungskiste. Diesmal entführt uns der 1957 geborene Schriftsteller nach Lissabon: ins Jahr 1985.
    "Das ist mein dritter Roman über die Liebe. Das war ein Projekt von mir, das jetzt abgeschlossen ist. Im ersten Buch, das nicht übersetzt ist, ging es um die Frage der eingebildeten Liebe. Das zweite behandelte die Ambivalenz der Liebe. Und in diesem hier geht es um die Eifersucht. In der Tat: Die Frage der Liebe interessiert mich. Im vorherigen Buch 'Kein Wort mehr über Liebe' habe ich ein Zitat von Stendhal als Motto gewählt: 'Die Liebe war für mich stets die wichtigste alles Angelegenheiten, oder vielmehr die einzige.' Ich finde diesen Satz von Stendhal ziemlich realistisch. Es ist die Hauptsorge des Menschen, den anderen zu lieben, im anderen etwas zu finden, das ihn trägt.
    Und die gegebene Liebe ist da, glaube ich, stärker als die einem entgegengebrachte. Die Liebe ist mir immer sehr wichtig gewesen - auch wenn andere meiner Bücher von der Trauer handeln oder vom Altern. Selbst dahinter finde ich immer wieder die Frage der Liebe. Ich glaube wirklich, das ist im menschlichen Leben die Hauptfrage. Die Frage der Macht ist eine andere. Aber im Grunde ist auch sie nur eine Art, anders auf die Frage der Liebe zu antworten."
    Dramatisches Kammerspiel
    Hervé Le Telliers Roman "Neun Tage in Lissabon" dreht sich um ein Treffen zweier Männer, das 26 Jahre zurückliegt. Der Erzähler Vincent, damals 40 Jahre alt, trifft sich in der portugiesischen Hauptstadt mit dem zehn Jahre jüngeren Fotografen und Kriegsreporter Antonio. In einer Hotel-Suite wollen sie für eine französische Zeitung eine Reportage über den Prozess gegen einen Serienmörder vorbereiten. Doch die Zusammenarbeit entpuppt sich als kompliziert. Denn Vincent, der in Lissabon Abstand von seiner unerfüllten Liebe zu Irène finden will, erfährt, dass Antonio in Paris ausgerechnet mit dieser Irène eine Affäre angefangen hat: eine bloße Bettgeschichte, wie er betont. Und dann kündigt das Objekt der Begierde auch noch seinen Besuch in Lissabon an. Ein dramatisches Kammerspiel nimmt Fahrt auf.
    Es ist allerdings weitaus komplexer, als dieses Resümee es andeuten könnte. Denn die Vergangenheit spielt mit. In kunstvoll verwobenen Szenen fächert Hervé Le Tellier zwei ganz unterschiedliche Männerbiografien auf, die sich – nicht ohne homoerotische Zwischentöne – miteinander verzahnen. Vincent hängt der Selbstmord seines Vaters nach. Und der hübsche Antonio sieht seine Heimatstadt Lissabon nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder, weil seine Jugendliebe damals ein tragisches Ende fand. Das wachsende Gefühlschaos in Vincent, seine rotierende Eifersucht, seine Fluchten in ein anderes Appartement – das alles kündet vom freien Fall in Richtung Midlife-Crisis.
    Freier Fall in Richtung Midlife-Crisis
    "In jedem steckt ein Loser, in jedem von uns. Man kann ihn zum Schweigen bringen. Aber er ist da. Und wenn wir Erfolg haben, sagt der Verlierer in uns: Du bist ein Hochstapler. Im Grunde betrügst du deine Umgebung. Du verdienst es nicht, Erfolg zu haben. Und wenn mein Held nun Erfolg hätte, wäre das sein Fall: Er wäre ein Hochstapler. Doch – und das ist die andere psychologische Dimension meines Helden: Es gelingt ihm nicht, etwas zu Ende zu bringen. Diese Frage des Unvollendeten hat mich interessiert. Leute, die scheitern, sind Leute, die es geschafft haben, keinen Erfolg zu haben.
    Deshalb hat Vincent etwas Anrührendes. Deshalb habe ich die Metapher des Okawango heran gezogen, dieses riesigen, drittgrößten afrikanischen Flusses, der das Meer nicht erreicht. Denn eine Wüste hält ihn auf. Mein Protagonist ist genau so. Er ist kreativ, hat starke Sehnsüchte. Aber etwas bringt ihn zum Erlöschen, etwas, das stärker als er selbst ist, das ihm verbietet, das, was in ihm steckt, zu vollenden. Ich glaube, was ihn – ohne das er genau weiß warum – aufhält, das ist sein übersteigerter Ehrgeiz, der ihn nicht existieren lässt, der ihn am Leben hindert."
    "In jedem steckt ein Loser, in jedem von uns"
    Vincent ist nicht nur Journalist, sondern nebenbei auch ein ambitionierter Schriftsteller - wobei er sich, wie in seinem Liebesleben, heillos verzettelt. Zum einen plagt er sich mit einer fiktiven Biografie über den vergessenen Pescheux d´Herbinville herum, der 1832 in einem Duell ein junges mathematisches Genie erschoss. Zum anderen übersetzt er – ohne Auftrag – Texte von Montestrela. Und der ist genauso wie Hervé Le Tellier Mitglied der Schriftstellergruppe OULIPO, der "Werkstatt für potenzielle Literatur".
    Womit wir bei den formalen Zwängen wären, die sich die Oulipoten beim Schreiben selbst auferlegen, um die Dimensionen von Sprache zu erweitern. Im Roman "Neun Tage in Lissabon" spielt die Zahl neun in der Komposition eine Rolle. Viel mehr verrät Hervé Le Tellier nicht. Denn die Regelzwänge gehören eher zu den Interna der OULIPO-Gruppe. Vor allem aber sollen sie uns bei der Lektüre nicht stören.
    "Ich neige dazu, meine Bücher wie einen Kuchen anzurichten: zum Beispiel den französischen Clafoutis, der aus einem Teig mit vielen Kirschen und kandierten Früchten besteht. Die Erzählung ist für mich der Teig. Und die kandierten Früchte sind die informativen Elemente, die ich nach und nach der Erzählung hinzufüge. Ich arbeite viel mit Elementen, mit Kristallen, die ich in die genau geplante Geschichte einbaue. Diese Kristalle sind Orte reiner Information. Mir liegt also zum einen daran, einen 'page-turner' zu schreiben, wie die Amerikaner sagen, wo man sofort zur nächsten Seite umblättern will.
    "Das Leben ist nicht geschnitten wie im Kino"
    Und gleichzeitig will ich nicht auf Momente verzichten, die außerhalb der Erzählung liegen, außerhalb der Fiktion - aber wo trotzdem etwas passiert, ohne dass es die Handlung beeinflusst. Das Leben ist nicht geschnitten wie im Kino. Das Leben ist ziemlich lang und es hat Momente der Schwäche. Ich wollte also Momente der Erholung haben, der Ruhe, wo aber informationstechnisch trotzdem etwas passiert."
    Und Hervé Le Telliers Erzählteig trägt seine Früchte. Die eingewobenen, oft skurrilen Wissenspartikel stören nie den Plot. Im Gegenteil: Sie bereichern ihn. Auch die literarischen Anspielungen auf Oulipoten wie Georges Perec oder Italo Calvino sind nie penetrant, sondern versteckte Sahnehäubchen für Oulipo-Liebhaber. "Neun Tage in Lissabon" ist zwar ein extrem durchdachter Roman, aber alles andere als öde Expertenliteratur. Schließlich geht es um die Abgründe der Liebe. Und die werden auch in der gelungenen deutschen Übersetzung von Jürgen und Romy Ritte locker, dialogreich, höchst intelligent und zügig präsentiert.
    Extrem durchdacht, aber keine öde Expertenliteratur
    Langeweile kommt nie auf. Schon deshalb nicht, weil Vincent und Antonio auf so unterschiedliche Weise der Lebensintensität hinterherjagen. Kunstvoll variiert Hervé Le Tellier hier nicht zuletzt das Thema der Odyssee: das Thema der unmöglichen Rückkehr. Sein mal melancholischer, mal ironischer Roman lässt jedenfalls viel heiße Luft aus den Phantasmen der Liebe ab. Und er zeigt, dass die vier Frauen, die auftreten, ihr Los viel selbstsicherer in die Hand nehmen als die beiden Liebesrivalen. Denn Vincent treibt der Furor der Eifersucht zuletzt in die Intrige. Er macht sich auf die Suche nach Antonios Jugendliebe, um ihn von Irène, seiner Obsession, abzubringen. Das Detektivische verleiht dem Roman nicht nur zusätzliche Zugkraft und Überraschungsmomente. Es entführt uns auch in ein Lissabon jenseits aller Touristenklischees.

    Hervé Le Tellier: "Neun Tage Lissabon."
    Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte.
    Dtv premium, München 2013, 276 Seiten, 14,90 Euro.