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Roman
Parabel über Raubtierkapitalismus

Rawi Hages erster Roman "Als ob es kein Morgen gäbe" (im Original: "De Niro’s Game") wurde 2008 von Kritikern hochgelobt. Sein neuer Roman "Spinnen füttern" spielt in New York und lässt einen Taxifahrer durch die Gegenwart cruisen. Neben Themen wie Raubtierkapitalismus rücken auch religiöser Fundamentalismus zusehends ins Scheinwerferlicht des Taxiromans.

Von Ulrich Rüdenauer | 31.03.2014
    Das Apartment des Taxifahrers Fly gleicht einer wild zusammengewürfelten, höhlenartige Formen annehmenden Bibliothek. Jeder Quadratzentimeter wird genutzt, um Bücher zu verstauen; in jeder Ecke sprießen papierne Türme wie Stalagmiten in die Höhe, aus jedem Winkel heraus wachsen kleine Buchkolonien in den Lebensraum von Fly, verlangen Platz und Anteilnahme.
    Genau genommen begibt sich der junge Mann mit jedem Schritt durch sein fantastisches Reich in Gefahr, erschlagen zu werden von den Wälzern und vereinnahmt von den Gespinsten, die sie in sich tragen. Er träumt sich hinein in Romane und Geschichtsdarstellungen, masturbiert, in literarische Szenerien hineinschlüpfend, auf dem fliegenden Teppich seines Vaters und erlebt auch die Welt, durch die er sich mit seinem Taxi bewegt, wie einen Roman.
    Fly selbst ist eine romanhafte Gestalt: Ein Don Quijote des 21. Jahrhunderts, ein Taxi Driver im Moloch der Gegenwart, ein Heimatloser, der sich an den Buchstaben festhält und an Sätzen durch das Leben hangelt.
    "Spinnen füttern", der dritte Roman von Rawi Hage, huldigt auf wunderbar literarische Weise der Literatur und verleiht dem Dasein in den Schattenbezirken unserer modernen Städte eine surreale Note. Als Rawi Hage Anfang der 80er-Jahre aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Beirut nach New York kam, arbeitete er zunächst als Taxifahrer. Damals dürfte ihm eine grundlegende Typologie in den Sinn gekommen sein, die sein Held Fly zur Theorie ausarbeitet:
    "Es gibt zwei Arten von Taxifahrern: Spinnen und Fliegen. Die Spinnen lauern an Taxiständen, bis die Funkzentrale anruft oder ein Fahrgast in ihren hungrigen Wagen schlüpft. Fliegen dagegen sind Streuner, rastlos und einsam fahren sie durch die Nacht, bis sie – in einer Gasse, auf einem Bordstein – einen Winkenden oder Pfeifenden entdecken. Ich bin ein Streuner."
    Prostituierte erzählt aus ihrem Alltag
    Fly liest am Tag in Büchern, und in der Nacht liest er die Underdogs seiner Stadt in seinem "Schiff", seinem "Flugzeug", seinem "Heim" auf: Huren, Betrunkene und Stripperinnen, die Verlorenen und Traurigen, die Drogenhändler und Halbseidenen lassen sich auf die Rückbank seines Taxis fallen. In vielen kleinen Episoden führt er uns tief hinein in das, was man einmal Großstadtdschungel nannte, in die Seitengassen und Gossen, wo abenteuerliche Begegnungen auf ihn warten. Etwa mit einem Dealer, den er für gutes Geld in düstere Ecken an den urbanen Randbezirken begleitet. Oder mit einem englischen Gentleman, der an einen geheimen Ort gebracht werden möchte, wo ausschweifende Orgien im Geiste de Sades gefeiert werden. Oder er trifft sich mit der Prostituierten Sally, die ihm aus ihrer Welt erzählt. Alles saugt der von Ort zu Ort und Geschichte zu Geschichte fliegende Fly auf, ohne dass ihn das Gehörte und Gesehene allzu sehr korrumpieren würde.
    Es ist, als würde der schwärmerische Fly auch sein Leben als Literatur begreifen: ein großes Reservoir an Erzählungen, auf heimliche und manchmal auch unheimliche Weise miteinander verbunden und voller Anspielungen auf die großen Epen. In Rawi Hages Roman treffen sich Absurdität und Realität, Tiefsinn und Witz wie auf einer Kreuzung mitten im Stadtzentrum.
    "Ich kreiste durch die Stadt, und das Universum wirbelte und zerbarst, und Staub und Flüssigkeit füllten die Leere, und das Universum kümmerte es nicht, ob ich rechts oder links fuhr, ob ich sein prähistorisches Funkeln betrachtete und seine Riesensterne. Ich fuhr durch diese überflutete Stadt des Nordens, ohne auch nur einen einzigen Kunden aufzugabeln."
    Karneval spielt eine bedrohliche Bedeutung
    Das beste Geschäft macht Fly während des Karnevals, der in dieser namenlosen Stadt eine bedeutende Rolle spielt - und dem Roman im englischen Original auch seinen Titel gibt: "Carnival". Als Motto zitiert Hage den russischen Literaturtheoretiker Michail Bachtin, der dem Karnevalistischen in der Literatur bekanntlich zu Ehren verhalf, in seiner Rabelais-Studie dem Karnevalesken etwas volkstümlich Rebellisches zuerkannte, eine entlarvende Besudelung des Etablierten durch die Schmutzfinger des Trivialen, eine Unterwanderung des hohen Tons durch das obszöne Gelächter der Hinterhöfe. Der Karneval wird bei Rawi Hage zum Bild für eine auf den Kopf gestellte, sich aller Regeln entledigenden Gesellschaft. In der Ausgelassenheit kommen die Menschen zu sich. Man kann sich im Karneval, als Fremder unter Fremden, gut verstecken. Aber das hat durchaus auch etwas Bedrohliches.
    Wilde Tiere zeigen ihre Krallen
    Denn nicht immer ist klar erkennbar, wer sich hinter den Masken verbirgt, was die Herumtreiber im Schilde führen. Dem Erzählen eröffnet dieses Setting erstaunliche Freiheiten: Hage schafft sich mit Fly einen Streuner, der ganz und gar aus der Literatur geboren ist und deshalb seine Umgebung, bei allen realistischen Details, mit großer Übertreibungslust betrachten kann. Schon die Herkunft dieses Fly ist ein wenig grotesk und pikaresk. Fly wächst unter Artisten, Clowns und Freaks auf, ein Zwerg prophezeit ihm früh "ein Leben der Wanderschaft unter Spinnen und wilden Tieren". Die Vorsehung trifft ein. Und die wilden Tiere zeigen im Laufe des Romans ihre Krallen, werden raufwütiger. Die Geschichte verdüstert sich.
    Der väterliche Freund Otto, ein Linker alter Schule, gerät nach dem Tod seiner Frau in einen Abwärtsstrudel, der ihn gar zum Mörder werden lässt. Ein Serienmörder, dem mehrere Taxifahrer zum Opfer fallen, treibt sein Unwesen in der Stadt. Die Welt ist ein Zirkus, in dem die Tiere längst übereinander herfallen und die Dompteure dem Spektakel machtlos zuschauen. Man muss nicht allzu viel hermeneutische Energie aufbringen, um darin eine Parabel auf unseren Raubtierkapitalismus zu sehen; auch religiöser Fundamentalismus rückt zusehends ins Scheinwerferlicht des Taxiromans. Die Kunst von Rawi Hage besteht aber darin, diese Themen in seinen hochartifiziellen, urbanen Kosmos aufzunehmen, ohne sie als Trumpf auszuspielen. So stellt "Spinnen füttern" am Ende das Poetische über den uns zermürbenden Alltag. Die Literatur ist eben nicht nur das Medium, mit dem sich Wirklichkeit darstellen lässt; sondern zugleich ihr mächtiger Gegenpol - und nicht zuletzt der fliegende Teppich, mit dem wir ihr entkommen können.
    Rawi Hage: Spinnen füttern. Roman. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Piper Verlag. München 2013. 295 Seiten. 22,99 Euro.