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Roman
Schräge Liebeserklärung an den Körper

Ein Leben aus der Perspektive des Körpers, das erzählt Daniel Pennac in "Der Körper meines Lebens". Nach einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit beginnt der Held des Romans, ein Tagebuch über seinen Körper zu schreiben. Entstanden ist ein temperamentvolles und kluges Buch.

Von Sabine Peters | 17.07.2014
    Der französische Schriftsteller Daniel Pennac im November 2013 auf dem roten Teppich vom International Film Festival in Rom.
    Der französische Autor Daniel Pennac (AFP)
    Das Tagebuch einer international bekannten, aber ungenannten Persönlichkeit gelangt in die Hände eines anderen, der es veröffentlicht: Diesen listigen kleinen Kunstgriff, der von sympathischem Understatement zeugt, verwendet auch der französische Schriftsteller Daniel Pennac in seinem neuen Roman "Der Körper meines Lebens". Die Behauptung, nicht er selbst, Jahrgang 1944, sei der Autor, sondern ein 1923 geborener und 2010 Verstorbener, ist zwar Humbug. Aber was jetzt vorliegt, ist die zu Herzen gehende Darstellung von Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe des Lebens mit seinem Körper macht. Zu Herzen gehend, weil Pennac keinen Kult um den Körper treibt, ihn nicht zum Fetisch stilisiert.
    Ein Leben lang
    Es geht los in Frankreich, 1936: Der Ich-Erzähler ist ein schwächliches Kind, eine Halbwaise, von seiner Mutter verachtet. Als 13-jähriger Junge wird er bei einem Pfadfinderspiel an einen Baum gefesselt und im Wald alleingelassen. Er gerät in Panik, schreit sich die Lunge aus dem Hals, beschmutzt sich - er läuft vor lauter Angst aus. Nach diesem demütigenden Erlebnis beschließt er, nie mehr Angst zu haben. Er treibt gezielt Sport und beginnt, das Journal seines Körpers zu schreiben, das ihn durch sein ganzes Leben begleitet. Ein durchschnittliches Leben: Der junge Erwachsene stürzt sich voller Elan ins Berufsleben, er verliebt sich, heiratet, sieht seine Kinder und Enkel heranwachsen. Allmählich wird er häufiger krank, er altert. Schließlich bekommt er Krebs und entscheidet nach einigen Behandlungen, Schluss mit Therapien und Transfusionen zu machen.
    Dieses Leben scheint insgesamt glücklich zu sein. Denn der Junge, der zunächst kein gutes Verhältnis zu seinem Körper hatte, lernt, ihn nicht nur zu trainieren und zu überwachen, sondern auch neugierig auf ihn zu werden und ihn zu genießen.
    Was ist der Mensch? Er mag ein heller Kopf sein, aber außerdem ist er immer mal wieder ein gänsehäutiger, schluchzender, lachanfallgeschüttelter, kopulierender, pupsender, er ist ein sterblicher Körper. Pennac schildert den pickligen Pubertierenden, der sich, so heißt es, am eigenen Schwanz aus der Kindheit zieht. Er zeigt uns den geschlipsten Anzugträger, der aber auch sein animalisches Vergnügen daran hat, sich gründlich zu kratzen. Er beobachtet andere Menschentiere, die nach dem Sport zufrieden unter ihren Achseln schnüffeln, bevor sie den Schweiß energisch mit Wasser und Deo bekämpfen Der Mensch bohrt lustvoll in der Nase, dann besieht er das Ergebnis auf der Fingerspitze. Als Hypochonder ist der Mensch Verfolger und Verfolgter in einer Person. Pennacs Tagebuchschreiber hält offenherzig fest, wie er den eigenen Körper und die seiner Zeitgenossen wahrnimmt: Freuden, Skurriles, Schmerzen - bis er selbst ein alter Knacker ist, der aus Tarnungsgründen hinter einer Zeitung hockt, um zu dösen. Einer, dessen Identität zunehmend von seinen Beschwerden bestimmt wird.
    Keine egofixierte Nabelschau
    Dieses Tagebuch ist keine egofixierte Nabelschau, es geht darin durchaus um allgemeine Phänomene, die jedem so oder so bekannt sind. Darüber hinaus: Der Ich-Erzähler betont zwar, sein Journal des Körpers wolle sich nicht mit den psychologischen, philosophischen, gesellschaftlichen Aspekten des Körpers beschäftigen, aber ganz abstinent kann der Text in dieser Hinsicht natürlich nicht bleiben - der Körper ist schließlich Natur und Kultur. Der Held selbst gehört zu der Generation und Schicht derer, die von ihren Kindern nie nackt, die nicht einmal im Schlafanzug gesehen wurden. Dabei wirkt er keineswegs verklemmt, seine Neugier scheint grenzenlos. Interessiert sieht er die Frisur- und Bartmoden, die Piercings und Strings bei den Jüngeren, dann wieder spottet er über die "Zahnspangenjugend", die einen Stacheldrahtverhau im Mund trage, einen modernen Keuschheitsgürtel.
    Phänomenologie des Körpers
    Pennac hat eine Phänomenologie des Körpers geschrieben, ach was, viel mehr: Dieses Buch ist eine schräge Liebeserklärung an den Körper, warmherzig und komisch, frech und dann wieder respektvoll. Der Held beschäftigt sich mit der Entdeckung seines kleinen Enkels - man sollte die Zunge gelegentlich mal aus dem Mund hängen lassen, sie langweilt sich sonst alleine da drinnen. Er beobachtet den Umgang von Ärzten mit Patienten; er sinniert über das Erstarren und Erröten bei Schreck und Scham. Der Körper "sagt" oft etwas, was der Mensch nicht ausdrücken kann. Aber der Versuch, jede Krankheit psychosomatisch zu deuten, empört den Helden. Schlimm genug, etwa an Magendarmbeschwerden zu leiden, und dann soll man auch noch selbst verantwortlich dafür sein? Ungesunde Lebensführung! Schwacher Charakter! Schuldig! In schönem Zorn ruft er aus: Meine Damen und Herren, wir sterben, weil wir einen Körper haben!
    Dieses Buch, das in Frankreich monatelang auf der Bestsellerliste stand, ist temperamentvoll geschrieben, es ist klug, menschenfreundlich und äußerst inspirierend. Nach der Lektüre wird man aufmerksamer für all die großen und kleinen Körperempfindungen und Marotten, die einem oft nur halb bewusst sind. Ein Körpertagebuch als eine Würdigung mit Witz.
    Daniel Pennac: "Der Körper meines Lebens", Roman, aus dem Französischen von Eveline Passet, Kiwi, circa 450 Seiten, 22,99 Euro.