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Roman
Sinnsuche eines Kriegsenkels

Stefan Moster ist ein Kriegsenkel, der zur Feder greift. In seinem Roman "Neringa oder Die andere Art der Heimkehr" begibt sich sein Protagonist auf Spurensuche seines Großvaters. Moster porträtiert damit eine erlebnisarme Generation, die vom Erinnerungskult lebt - und in diesem Fall einen Entwicklungsschub durch die Liebe erfährt.

Von Anja Hirsch | 29.02.2016
    Buchhandlung
    Moster beschreibt einen Mann in den 50ern auf Sinnsuche. (picture alliance / dpa / Foto: Ralf Hirschberger)
    Spätestens seit Sabine Bodes Untersuchungen über die Kriegskinder sind Folgen früher Gewalt- und Hungererfahrung untersucht. Nach ihrem Buch über die Kriegsenkel hat längst auch die dritte Generation einen Symptomekatalog. Aufgewachsen unter kriegstraumatisierten Eltern, plagt sie laut Bode ein diffuses Lebensgefühl und mehr. Der Held aus Stefan Mosters neuem Roman kann ein Lied davon singen. Nach Selbstverletzungen begibt er sich schon als Student auf die Couch eines Analytikers - viele Stunden im Dämmer eines Hinterhofzimmers, die ihn bis ins Sauerstoffzelt des Krankenhauses zurückführen, das er als Neugeborener erleben musste. Die Erinnerung rührt ihn sehr. Doch Jahre später erfährt er durch Nachfragen, dass er nie in einem Sauerstoffzelt lag.
    "Durch die lapidaren Auskünfte meiner Mutter wusste ich nun, dass ich mich nicht erinnert, sondern mir etwas eingebildet hatte. Es kam mir wertlos vor, es kam mir vor, als hätte ich vor mir selbst Theater gespielt."
    Die dritte Generation hat endlich zu schreiben begonnen. Doch eher aus dem Gefühl heraus, dass das eigene Leben angesichts der von den Eltern und Großeltern erlebten Katastrophen als Romanstoff nicht taugt. Unbewusst wird die eigene Biografie dramatisiert. Besser noch, man rückt auch gleich die spannenderen Alten in den Blick; ex negativum, indem man sich mit deren Schuld auseinandersetzt. Oder sich umgekehrt an deren vergangenem Ruhm labt.
    Schamvoll entlarvte Geburtsfantasie als Auslöser
    Letzteres versucht Stefan Mosters Protagonist etwa 20 Jahre nach seiner schamvoll entlarvten Geburtsfantasie. Er ist inzwischen mit 50 im besten Midlife-Crisis-Alter und erfolgreicher Mitarbeiter einer Londoner Softwarefirma, zuständig für sogenannte Blurbs, Werbeblöcke, die für Programme locken, die noch gar nicht entwickelt wurden.
    Und auch hinter dem schönen Schein seines Designerlebens macht sich gähnende Leere breit. Lange schon solo, pflegt er zwangsweise sexuelle Abstinenz, bis eines Tages, als er ausnahmsweise zu Hause ist, seine schon seit Jahren für ihn tätige litauische Putzfrau Neringa in sein Blickfeld rückt. Zarte Annäherungsversuche gelingen. Man legt die Putzbeziehung beiseite und sitzt zusammen im sonnigen Park, wo Neringa ihr eigentliches Talent offenbart: Sie ist Mitglied einer Flüchtlingsgruppe, die Schattentheater macht.
    "Was ... ich meine, was fasziniert Sie so am Spiel mit den Figuren?
    Innerlich siezte ich sie aus Verlegenheit nun wieder.
    Sie kennen keine Schwere, wenn sie tanzen, antwortete sie.
    Sie brauchen kein solides Pflaster unter den Füßen, sagte ich.
    Genau, sagte sie. Aber wie kommst du ausgerechnet auf Pflaster?"
    Durch keinen Geringeren als den Großvater: Pflasterer von Beruf, soll besagter Jakob Flieder ein kunstvolles Bodenmosaik verlegt haben. Etwas Bleibendes, Tragendes, Bedeutungsvolles, das der namenlos bleibende Enkel unbedingt besichtigen gehen will. Seit einem Kinofilm und dem Auftauchen einer alten Postkarte versucht er, Jakobs Lebensgeschichte aus Puzzleteilen zusammenzusetzen. Ihn interessiert inzwischen auch die mütterliche Seite seiner Familie. Mit Reisen zu symbolträchtigen Orten will er Licht ins dunkle Familienarchiv bringen.
    "Vielleicht, um durch die Gegenüberstellung die lächerliche Geringfügigkeit des eigenen Lebenslaufs zu erkennen. Schon ein flüchtiger Blick auf die historischen Daten, zwischen denen das Leben meiner Großväter verlief, relativierte alles, was meine Generation für sich als Herausforderung deklarierte. Und trotzdem benutzten wir gewichtige Begriffe, wenn wir uns beschrieben, Begriffe, die ein Mann wie Jakob Flieder nie auf sich angewendet hätte. Unvorstellbar, dass er je über seine Identität spekuliert hätte. "
    Einsichten dieser Art zeigen Wirkung: Die Emsigkeit der familiären Spurensuche des Ich-Erzählers nimmt ab. Dafür steigt sein Interesse für Neringas Herkunft. Statt am Soldatengrab eines Onkels zu gedenken, schaut er sich in litauischen Plattenbausiedlungen um, die fast auf der Reiseroute liegen. Und als er nach seiner Rückkehr in Deutschland erkennen muss, dass der Großvater vermutlich doch kein Mosaikkünstler war, wartet der sichere Hafen der Liebe. Sogar ein Kind kann er sich nun mit Neringa vorstellen.
    Auf vielen Zeitebenen raffiniert geschnittener Roman
    Stefan Moster porträtiert mit seinem raffiniert auf vielen Zeitebenen geschnittenen Roman eine erlebnisarme Generation, die sich vom Erinnerungskult Erkenntnisse oder große Gefühle verspricht. Das ist gut beobachtet. Von eigener Komik sind die Stellen im Roman, in welchen der Protagonist einsehen muss, dass die großen Lücken in der Familienüberlieferung ihn manches beschönigen ließen.
    Dies aber hätte als Stoff ausgereicht. Dass er darüber hinaus durch die Liebe einen Entwicklungsschub macht, ist dann doch etwas zu ambitioniert. Die Beziehung zu Neringa als notdürftig verklebter Schicksalsfaden zwischen Ost und West bleibt eben doch nur Funktionsträger einer weiteren Bestandsaufnahme, die der Roman vielleicht eher unfreiwillig transportiert: die Erfahrung echter Not als Voraussetzung für Lebendigkeit. Der materiell gut gepolsterte Ich-Erzähler muss bei Neringa in die Lehre gehen, um sich zu spüren. Das wirkt dann doch etwas konstruiert.
    Buchinfos:
    Stefan Moster: "Neringa oder die andere Art der Heimkehr", Roman, Mare Verlag, Hamburg 2016, 280 Seiten, Preis: 20,00 Euro