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Roman über Menschenhandel
Grausamkeiten aus Mexiko

In ihrem Roman "Gebete für die Vermissten" lenkt die Schriftstellerin Jennifer Clement unseren Blick auf Leben, die scheinbar nichts wert sind und auf eine Welt, in der junge Frauen von Drogenbanden entführt und grausam missbraucht werden.

Von Holger Heimann | 29.04.2015
    Es ist gefährlich, sich in einem Land, wo korrupte Polizisten und Politiker mit der Drogenmafia paktieren, gegen Rechtlosigkeit und Gewalt aufzulehnen. Journalisten gehören in Mexiko zu den bevorzugten Opfern von Auftragsmorden. Die in den USA geborene, aber von Kindheit an in Mexiko lebende Schriftstellerin Jennifer Clement lässt sich trotzdem nicht einschüchtern. Ihre bislang drei Romane sind allesamt Abbilder einer unheilvollen Jetztzeit. Die von Drogen- und Menschenhändlern bedrohten Frauen, die im Mittelpunkt ihres neuen und ersten ins Deutsche übersetzen Buchs "Gebete für die Vermissten" stehen, existieren nur in der Fiktion. Aber die Geschichte, für die Clement über zehn Jahre lang recherchiert und viele Menschen getroffen hat, stammt mitten aus der mexikanischen Gegenwart.
    "Die Idee zu dem Roman entspringt dem Gespräch mit einer Frau aus Guerrero. Ich fragte sie, wo all die Mädchen abgeblieben seien, ob sie verschleppt wurden. Und sie bejahte und erzählte: 'Wir gruben Löcher in die Erde. Und als die Drogendealer in ihren Autos kamen, versteckten wir die Mädchen in diesen Löchern."
    Clements Hauptfigur Ladydi ist eines der Mädchen, das sich in solch ein Versteck flüchtet, wenn die Drogendealer in ihren SUVs mit den getönten Scheiben vorfahren, um sie und ihre Freundinnen in die luxuriösen Autos zu zerren und mitzunehmen. "Eine vermisste Frau ist nur ein Blatt, das der Regen in die Gosse treibt", heißt es einmal. Als Junge in dieser armen, kargen Berggegend aufzuwachsen, ist allemal besser. Und deshalb ziehen die Mütter ihre Töchter wie Knaben an. Sie schwärzen die Gesichter der Mädchen mit Kohle und reiben die Haut mit Chilipulver ein, damit sie Ausschlag bekommen und so unansehnlich wie nur möglich werden. Denn auch hässlich zu sein, erhöht die Überlebenschancen.
    Doch auf Dauer lassen sich die Mädchen nicht verstecken und beschützen. Die Drogenbosse warten nur auf den passenden Moment. Dann holen sie sich Paula, die Schönste von Ladydis Altersgenossinnen. Als die Verschleppte überraschend ein Jahr später aus dem Harem eines Drogenbarons zurückkehrt, ist sie mit Wunden überdeckt und gänzlich traumatisiert. Ich war wie eine Plastikflasche mit Wasser, erzählt sie ihrer Freundin Ladydi: "Etwas, das man sich greift, um einen kräftigen Schluck daraus zu nehmen." Es ist eine Erfahrung, die viele Frauen in der brutalen Wirklichkeit Mexikos teilen und die die Autorin Jennifer Clement antreibt.
    "Ich schreibe immer über die Unbeschützten. Über Dinge, die mich nicht mehr loslassen und die mir das Herz brechen. Dieser Roman entstand, weil mich diese Mädchen und die Gewalt gegen Frauen beschäftigen. Obwohl sich viele Bücher mit der Drogenkultur und der Situation in Mexiko auseinandersetzen, gab es bislang noch keinen Roman, der zeigt, wie Drogenkartelle in das Leben von Frauen und Mädchen eingreifen."
    Hilfe haben die Mütter, die verzweifelt ihre Töchter zu beschützen versuchen, nicht zu erwarten. Die Männer des Dorfes sind weg, ausgewandert ins reiche nördliche Nachbarland. Anfangs schicken sie noch Geld, doch bald schon richten sie sich in einem neuen Leben ein und verbannen ihre Familien aus der Erinnerung. Die Zurückgebliebenen hingegen scheinen gefesselt an ihr ärmliches, kaum erträgliches Dasein. Es sind Vergessene, die behandelt werden wie Ungeziefer. Hubschrauberpiloten etwa kippen die für die Marihuana- und Mohnplantagen bestimmten Gifte aus Angst vor den Drogenproduzenten einfach über den Behausungen der Frauen aus. Und trotzdem verfallen die Bewohnerinnen dieser gottverlassenen Welt nie gänzlich in Agonie. Niemals geben sie auf, eine Energie, die scheinbar durch nichts aufgezehrt werden kann, hält sie aufrecht.
    Hoffnung auf einen Weg aus dem Elend
    "Ich habe mit vielen Müttern gesprochen, deren Töchter entführt worden sind. Das ist furchtbar. Diese Frauen sind unendlich verzweifelt. Aber das Erstaunliche ist doch, dass gerade angesichts von Not und Elend manchmal unsere besten Seiten zum Vorschein kommen. In einer schmerzvollen Wirklichkeit zu leben, bedeutet nicht, ohne Liebe zu leben."
    Ladydis Mutter Rita muss ihr Leid betäuben. Häufig ist sie völlig besoffen, manchmal fällt sie ins Koma. Nicht wegen der Hoffnung auf eine glänzende Zukunft hat Rita ihr Kind nach der britischen Prinzessin benannt. Sondern vielmehr als eine um ihr Glück Betrogene – wie alle anderen Frauen im Dorf auch. Aus der Perspektive von Ladydi wird von diesem Leben ohne Zukunft erzählt. Es ist ein schmuckloser und erstaunlich abgeklärter Bericht. Zugleich entfaltet die direkte, ungekünstelte Sprache dieser Ich-Erzählerin jedoch eine ergreifende Dringlichkeit. Aus der Verbindung von solcher Nüchternheit und Intensität wächst dem Roman eine ganz eigene poetische Kraft zu.
    "Das Faszinierende für mich war diese Stimme, die mich gefesselt hat – die Stimme von Ladydi. Sie schaut auf die Dinge, wie sie sind und registriert einfach, was sie sieht. Sie erwartet weder befreit oder beschützt zu werden, noch, dass sich etwas grundlegend ändert oder dass sie jemand rettet. Es ist diese Stimme kompletter Akzeptanz, die mich gepackt und durch das Buch getragen hat."
    Dennoch ergibt sich Jennifer Clements Heldin nicht einfach in ihr Schicksal. Ein Job als Hausmädchen in einer Villa im nahe gelegenen Acapulco verspricht einen Weg aus dem Elend. Aber dann wird Ladydi von ihrem Cousin in Drogengeschäfte hineingezogen und zudem in Verbindung mit einem Doppelmord gebracht. Bald stürmt ein Großaufgebot von Polizisten das Anwesen und entdeckt nicht nur Rauschgift unter der Matratze des Mädchens, sondern darüber hinaus im bislang immer verschlossenen Ankleidezimmer ein auch vor den Bediensteten verborgenes riesiges Waffenarsenal. Von dem luxuriösen Domizil führt der Weg mithin direkt in das Frauenzuchthaus der Hauptstadt. Hier nun begegnet Ladydi einer bemitleidenswerten Schar von Ausgestoßenen und deren bitteren Lebensgeschichten.
    "Ich habe viel Zeit im Gefängnis verbracht. Aber ich bin weder Journalistin noch Politikerin oder Soziologin. Mir geht es um die poetische Erfahrung, darum, wie das Göttliche mit dem Profanen koexistiert und das Schöne mit dem Hässlichen. Ich glaube, selbst an den grauenvollsten Orten gibt es einen Zauber und Poesie."
    Im Gefängnis von Mexiko-Stadt jedoch verliert sich die kraftvolle Stimme der Ich-Erzählerin mehr und mehr. Während es Clement zuvor glänzend gelungen ist, die Leidensgemeinschaft von Müttern und Töchtern in einer kargen Bergwelt in einprägsame Bilder zu fassen, zerfällt ihr die Zuchthauserfahrung von Ladydi zusehends in eine Aneinanderreihung einzelner Gewaltepisoden – geprägt von den traurigen Schicksalen der Insassen. Dabei war sich die Autorin selbst der Schwierigkeit nur allzu bewusst, für die enorme Stofffülle eine angemessene Form zu finden.
    "Ich musste am Ende rund hundert Seiten aus dem Buch rausschmeißen. Es ist immer schwierig, das zu tun, aber man muss die Geschichte schützen. Ich wollte so vieles reinpacken, es gab einfach so viel Material."
    Jennifer Clement hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Aufmerksamkeit auf die Not der Benachteiligten und Schutzlosen in Mexiko zu lenken. Die langjährige Präsidentin des mexikanischen P.E.N. betrachtet sich selbst als eine politische Autorin. Sie verhehlt nicht, dass sie auch mit ihren Büchern Einfluss nehmen will. "Gebete für die Vermissten" ist ein Roman, dessen Stärke in einer großen Direktheit und Unmittelbarkeit liegt und der trotz einer zuweilen problematischen Komposition nachwirkt. Jennifer Clement mag sich eben dies am meisten gewünscht haben.
    Jennifer Clement: "Gebete für die Vermissten". Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, 230 Seiten, 19,95 Euro.