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Roman "Urwaldgäste
Subtile Empathie und subtiler Witz

"Schlicht und einfach Literatur: Sprache, Weltentwurf, Text gewordene Krisensituation." So jubelte der "Tagesspiegel", als 2013 Roman Ehrlichs Debütroman "Das kalte Jahr" erschienen war. Roman Ehrlich stellt seine Kunst nun mit dem Erzählband "Urwaldgäste" erneut unter Beweis.

Von Claudia Kramatschek | 16.02.2015
    Der Autor Roman Ehrlich bei einer Lesung in einer Straßenbahn.
    Die Erzählungen in "Urwaldgäste" sind nur auf den ersten Blick von der fröstelnden Kälte einer grundlegenden Tristesse überzogen, die das Alltags- und Arbeitsleben aller Figuren heimsucht. (picture alliance / Robert B. Fishman)
    Klänge es nicht viel zu spröde, könnte man sagen: Roman Ehrlich ist der Systemtheoretiker unter der jungen Erzählgeneration deutscher Sprache. Doch dieses Bild geht zugleich fehl. Denn die vorliegenden Erzählungen - elf an der Zahl - sind nur auf den ersten Blick von der fröstelnden Kälte einer grundlegenden Tristesse überzogen, die das Alltags- und Arbeitsleben aller Figuren heimsucht. Auf den zweiten Blick offenbaren die Erzählungen nämlich Subtiles: subtile Empathie und subtilen Witz zugleich. Beides beginnt schon mit dem Titel: Denn - wer sind die Urwaldgäste eigentlich?
    "Für mich sind natürlich die Urwaldgäste die Protagonisten in den Geschichten, die in den Verhältnissen, in denen sie leben, irgendwann bemerken, dass sie sich darin nur schwer zurechtfinden oder dass es da vielleicht Regel gibt, die sie befolgen müssen, aber sie wissen gar nicht, wie die aussehen oder welche das sind und was man eigentlich tun müsste, um zum Beispiel ein guter Gast zu sein und dem System, in dem man sich aufhält, gerecht zu werden."
    Protagonisten in schwierigen Verhältnissen
    In der Auftakterzählung beispielsweise heuert ein Mann in einer Firma an. Dort hofft er eben jene Einsamkeit vorzufinden, die ihn selbst schon lange umgibt.
    "Es ist unmöglich, genau zu sagen, wann das geschehen war – wann dieser Zustand begonnen hatte, in dem ich maulfaul, abwesend und auch taub für die Äußerungen meiner Umwelt wurde. Es war ein Vorgang wie die Ankunft des Winters."
    Doch nun soll ausgerechnet er Telefonmarketing betreiben, um den "Aquionic Transformer" - ein rätselhaft bleibendes Produkt - zu verkaufen. Nichts kostet ihn mehr Überwindung - und so probt er tastend den Aufstand. Erst unterschlägt er in den Telefonaten den Firmennamen. Dann werden die Gespräche selbst der Ertrag seiner Arbeit - und der Gegenstand der Erzählung.
    "Ich habe, erzählte mir eine der Personen am Telefon, sehr schlecht geschlafen. Aus dem Hinterhof, zu dem mein Schlafzimmerfenster zeigt, tönte die ganze Zeit ein lautes Würgen, als würde jemand vergeblich versuchen, sich mit leerem Magen zu übergeben. Ich habe nicht in den Schlaf gefunden und bin nur ab und an kurz weggetaucht in abstruse Szenarien."
    Abstruse Szenarien
    Abstruse, da logisch nicht auflösbare Szenarien eröffnet auch Roman Ehrlich. Seine Erzählungen - entstanden als Atempause während der formal herausfordernden Arbeit am Roman "Das kalte Jahr" - sind angelegt wie Räume, die beim Lesen gucklochartige Momentaufnahmen erlauben. Diese Momentaufnahmen fangen in mikroskopischer Manier Situationen ein, die Aufschluss geben nicht so sehr über die innere emotionale oder psychische Verfasstheit der Figuren, sondern darüber, wie diese als soziale Wesen funktionieren – oder eben nicht funktionieren: Ein alleinstehender IT-Ingenieur etwa leiht sich seine Porno-Filme bewusst in der Videothek aus, da er dies als Akt einer zwar geringfügigen aber notwendigen sozialen Interaktion versteht. Ein Innenarchitekt hegt plötzlich Zweifel, ob die Illusion von Leben überhaupt künstlich herzustellen sei. Eine zweitrangige Band gelangt an den Moment, wo die lang verneinte Klage über die eigene Bedeutungslosigkeit nicht mehr übertönt werden kann. Ein Kontakt des Verstärkers ist defekt - plötzlich stehen alle Vereinbarungen, die bis dato galten, in Frage.
    "Das ist vielleicht auch etwas, was sich in all diesen Geschichten abspielt: Dass alle, die darin vorkommen, feststellen: O.K, hier läuft eine Art Programm ab. Und das hat auch mit Erzählung zu tun. Es gibt ja ganz viele Erzählungen, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, von denen man auch glaubt, dass man sie für sich selbst verwirklichen muss - egal ob das das Leben in der Großstadt oder als freier Künstler ist. Nicht viele von den Leuten in dem Buch sind schon an dem Punkt, wo sie das so klar formulieren können. Aber sie merken, ich bin hier zu einem gewissen Grad fremd gesteuert oder ich verfolge hier etwas, das ich ganz lange nicht reflektiert habe und trotzdem scheint es so ganz wichtig für mich zu sein – und warum denn eigentlich? Und dieser Punkt, an dem man das hinterfragt und an dem das immer Verhandlungssache bleibt - der ist mir sehr wichtig."
    Bei den Figuren wird ein Schalter umgelegt
    Roman Ehrlich hält insofern den Moment fest, in dem ein Schalter ungelegt wird im Leben seiner Figuren. Sehnsucht brennt auf in ihnen - für die sie noch keine Sprache haben. Das macht ihre eigentliche Verlorenheit aus. Roman Ehrlich umkreist diesen Moment selber eher tastend und lässt – in bewusster Absage an das überkommene Ideal einer "großen" Erzählung - offen, was kommt. Statt auf Handlung setzt er auf Montage und schneidet Bild an Bild, Stimme an Stimme und damit Binnenerzählung an Binnenerzählung. Es sind insofern Forschungsgeschichten, die den Moment vor der Erforschung festhalten. In der Erzählung "Die magische Macht" erfahren wir von einer Malerin, deren größte Sorgfalt der Fertigung der Bilderrahmen gilt, so als sei diese Hinführung zum Bild – der Moment, wenn die Kunst in der Schwebe verharrt - der eigentliche Akt. Erst der Rahmen, dann das Bild: Beschreibt Roman Ehrlich hier seine eigene Vorgehensweise?
    "Bei mir ist es eigentlich immer so, dass ich einen relativ theoretischen Einstieg in die Geschichten habe. Ich lese zwar sehr viel erzählende Texte, also Romane und Geschichten, aber auch viele theoretische Texte. Und dann ist es bei mir meisten so, dass ich dann, wenn ich Theorietexte lese, ich mir das auf eine Art auch wieder erklären muss, was ich da lese, um das auch verarbeiten zu können. Und das mache ich, indem ich das quasi in so eine Art soziales Interaktionssystem einordne, in einer Form von Geschichte, die ich mir dann zurechtlege.
    Zurecht legen heißt: Vieldeutige Räume zu öffnen, mithilfe einer präzisen und doch flirrenden Sprache, die geduldig noch dem leisen Schnarren eines Kassettenrekorders lauscht. Dass daraus hintersinnige Literatur entsteht, beweist nicht zuletzt die Erzählung mit dem Titel "Die Seekuh Tiffany".
    "Von allen anderen Ereignissen der Zeitgeschichte unberührt, spie die Seekuh Tiffany, an einem späten Abend im September 2011, in der Süßwassersäugetierabteilung des Sealife Aquaparks, ein Kinderkassettenradio der Marke Fisher-Price auf den Beckenrand ihres Bassins, in dem sie bis dahin, seit ihrer Geburt acht Jahre zuvor, ohne größere Zwischenfälle geschwommen war."
    Bildhafte Geschichten
    Verzweifelt wird ein Journalist versuchen, dem befragten Zoologen eine Deutung des Geschehens zu entlocken. Doch dieser widersteht der Überhöhung des Geschehens - und redet stattdessen von der Liebe, die er vergeblich seit Langem sucht. Auch Roman Ehrlich lässt uns mit seinen zeichenhaften Geschichten letztlich allein: Sie handeln von Wundern, die sind, was sie sind - nicht mehr und nicht weniger. Sie locken uns mit inneren Verwandtschaften und wiederkehrenden Motiven auf den Pfad einer Deutung, der sie sich doch entziehen. Sie zeugen von einer Welt, die wir erschaffen haben – und die wir nicht mehr verstehen. In "Die Seekuh Tiffany" nimmt Roman Ehrlich deshalb auch Bezug zu Aleida Assmanns Auslegung des Symbol-Begriffs.
    "Im Jahr 411 vor Christus (zum Beispiel) kam ein Vertrag zwischen zwei Parteien durch gegenseitiges Einverständnis zustande. Rituell wurde dieser Vertrag besiegelt durch das Entzweibrechen eines Gegenstandes mit Zeichenwert. Jede der beiden Parteien erhielt eine Hälfte als Statthalter der Einigung. Das Zusammenfügen der beiden Teile bestätigte die Rechtskräftigkeit des Vertrages und die Identität der beiden Vertragspartner. Man nannte diese Gegenstände Symbola."
    "Manchmal ist es auch so, dass die Menschen oder Figuren, die darin vorkommen, eine Hälfte dieses auseinandergebrochenen Gegenstands haben und sie wissen, es gibt noch eine andere. Aber sie wissen nicht mehr genau, wer ist der Vertragspartner oder wo ist dieses andere Gegenstück, dass dann beim Zusammenfügen wieder klar macht, was da eigentlich für eine Vereinbarung getroffen war."
    Das Theater der Dinge
    Vielleicht besitzen ja deswegen die Dinge selbst eine so starke Präsenz in allen Erzählungen. Eine dieser Erzählungen heißt sogar "Das Theater der Dinge". Sie beginnt mit einem Schauspieler, der auf die Bühne tritt und für lange Zeit nur einen Satz von sich gibt:
    "Wir haben all diese Dinge produziert, ohne uns zu überlegen, ob wir mit ihnen leben wollen. Und das müssen wir aber jetzt."
    "Das ist etwas, was auch mein Leben total stark beeinflusst und meistens nicht positiv: Dass wir all diese Dinge herstellen, auch in einer unglaublichen Masse und Geschwindigkeit, die uns aber dann täglich begleiten. Wir müssen wirklich mit denen leben. Es gibt ja gar keinen Moment, in dem man das abstellen kann. Und ich glaube, wie die Sachen aussehen, wie viel Sorgfalt an den Tag gelegt wurde, um sie zu entwickeln und wo sie so stehen und weshalb: Dass das einen ebenso gravierenden Einfluss auf unser tägliches Leben hat wie die Gesetze, die wir befolgen."
    Diesen Gesetzen ist Roman Ehrlich auf der Spur. Er belauscht sie. Und macht das Knacksen im Getriebe unseres Alltags hörbar mit Bildern, die seinen Figuren und uns den Weg eröffnen in die Möglichkeit des Noch-Offenen.
    Roman Ehrlich: Urwaldgäste. Erzählungen. Dumont Verlag 2014. 270 Seiten. 19,99 €