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Roman von Okky Madasari
Probleme einer jungen Demokratie

Indonesien als Gastland der letzten Frankfurter Buchmesse präsentierte sich überwiegend mit Themen zur traumatischen Vergangenheit des Landes. Anders der Roman von Okky Madasari, Politikwissenschaftlerin und Journalistin: Er ist gegenwartsnah und folgt dem Lebensweg zweier Straßenkünstler kurz vor und nach dem Fall der Suharto-Diktatur.

Von Angela Gutzeit | 08.02.2016
    Tänzerinnen aus Indonesien stehen in Frankfurt am Main (Hessen) auf der Buchmesse vor Beginn des Eröffnungsrundgang vor dem Pavillon des diesjährigen Gastlandes Indonesien Spalier
    Die Autorin interessiert sich mehr für die Schattenseiten ihres Landes und weniger für das Urlaubsidyll der Werbekataloge. (picture-alliance / dpa/Frank Rumpenhorst)
    Für viele Europäer ist Indonesien ein Sehnsuchtsland, vor allem Bali gilt als Inbegriff eines Urlaubsparadieses. Das Indonesien, das die junge Schriftstellerin Okky Madasari zeigt, hat mit diesem Bild wenig gemein. Sie interessiert sich für die Schattenseiten, für die Benachteiligten und Außenseiter in einem Land, das seinen Weg als junge Demokratie noch zu suchen scheint.
    "Ich habe vier Romane geschrieben und alle meine Bücher handeln von Indonesien und seinen Menschen, ihren Lebensverhältnissen von den vorhergehenden Regimen bis zur Gegenwart. Ich möchte zeigen, dass das Land nach dem Fall des Totalitarismus – obschon eine Demokratie – mit einer Menge Schwierigkeiten zu kämpfen hat: Ungerechtigkeit, Korruption, Diskriminierung, Gewalt, Armut."
    Nach dem Fall der Suharto-Diktatur wird Indonesien demokratisch
    In ihrem neuen, dem ersten ins Deutsche übersetzten Roman mit dem recht unglücklichen Titel "Gebunden – Stimmen der Trommel" erzählt Madasari von der Freundschaft zweier Studenten, die früh die Universität gegen ein Leben als Straßenmusiker eintauschen. Jek ist der ältere, erfahrenere, Sasana der extrovertiertere, der bald als bekennender Transvestit nur noch in Frauenkleidern auftritt. Es ist das Jahr 1993, Indonesien wird seit fast drei Jahrzehnten von Suharto diktatorisch regiert, die Staatsmacht ist allgegenwärtig. Und das bekommen die beiden Nonkonformisten schmerzlich zu spüren. Bei einer Performance, die auf das spurlose Verschwinden einer Frau aufmerksam machen soll, wird das Paar plötzlich von Polizei umringt und zusammengeschlagen. Beide landen ohne Prozess im Gefängnis, wo sie misshandelt und gedemütigt werden. Es sind drastische, schwer erträgliche Szenen – Sasana wird mehrfach vergewaltigt –, aber die engagierte Okky Madasari besteht darauf, nichts zu erfinden.
    "Das Buch reflektiert das, was tatsächlich geschieht. Ich will, dass meine Leser diese Realität zur Kenntnis nehmen. Ich selbst ging während der Suharto-Zeit zur Schule, diese Leute haben mich und meine Generation indoktriniert. Sie haben uns dazu erzogen, nicht kritisch nachzufragen, sondern in einer Atmosphäre der Furcht zu leben und uns daran zu orientieren, was andere wollen, uns der Mehrheitsmeinung unterzuordnen."
    Unterordnung war lebenswichtig im Totalitarismus
    Ein Menschenleben zählt wenig zu Zeiten der indonesischen Diktatur. Wer sich nicht unterordnet und gegen das bestehende System revoltiert, wird zur Seite geräumt und entsorgt wie Müll. Als Sasana und Jek nach langem Martyrium unabhängig voneinander entlassen werden – sie verlieren sich über Jahre aus den Augen – sind beide zutiefst traumatisierte, gebrochene Menschen. Sasana fühlt sich auch weiterhin verfolgt und wird kurz darauf in die Psychiatrie eingewiesen. Jek findet sich in einer Fabrik wieder, einem unbarmherzigen Arbeitsrhythmus und der Willkür der Konzernleitung ausgeliefert. Er lebt mit einer Prostituierten zusammen und wird schließlich deren Zuhälter.
    Doch dann durchzuckt ein gewaltiges Beben das Land. Madasari skizziert den politischen Umschwung 1998 nur kurz. Suharto ist am Ende und muss schließlich abdanken. Das Land aber rutscht in eine gewaltige Wirtschaftskrise, die Preise explodieren. Für die einfachen Menschen zählt nicht so sehr die neue Freiheit, sondern vielmehr das nackte Überleben. Statt Jubeltänzen gibt es lange Schlangen vor Läden und Banken. Es ist diese Atmosphäre, in der wir Jek wiederbegegnen. Wie viele andere zieht er auf der Suche nach Arbeit durch die unwirtlichen Straßen von Jakarta – vergeblich. Als er auf Anhänger einer islamischen Gruppe trifft, laden diese ihn ein, bei ihnen zu bleiben. Jek nimmt an, obwohl ihm Religion nichts bedeutet.
    "Ich hatte schon seit Jahren nicht mehr gebetet. Schon als Kind hatte ich höchstens am Zuckerfest oder in der Schule gebetet. Ich beherrschte das Gebetsritual nicht. Ich hatte die Verse, die man dabei aufsagen muss, nie auswendig gelernt. Ich wusste noch nicht einmal, wozu das Gebet dienen sollte."
    Gemeinsam durchstreifen die religiösen Eiferer Jakarta und betrachten sich dabei als die neuen Ordnungshüter im Land. Mit brutaler Gewalt ziehen sie gegen Freizügigkeit und Individualismus, gegen Unmoral und Sittenverfall zu Felde – geduldet und sogar instruiert von der Polizei. "Allah-u akbar", skandieren sie, wenn sie Cafés, Bordelle, Spielkasinos und Hotels stürmen, um die Stadt von der Sünde zu befreien. Wie Jek kommen auch die anderen Glaubenskrieger von der Straße. Sie waren Ausgestoßene, jetzt hingegen begleitet sie das Gefühl beinah unbeschränkter Macht.
    Als Jeks mit Macheten bewaffnete Gruppe wieder einen der Säle stürmt, wo zu laut gelacht wird, zerren die Männer auch Sasana von der Bühne. Für Jek wird die Wiederbegegnung mit dem einstigen Freund und somit der eigenen, ganz anderen Vergangenheit zum Wendepunkt. Es scheint, als würde er plötzlich aus einer tiefen Hypnose geweckt. Eben dies ist es, was Okky Madasari, die zunächst als Journalistin gearbeitet hat, mit ihren Büchern bezweckt – sie will die Menschen in ihrem Land wachrütteln.
    Die Rolle von Literatur und die gesellschaftlichen Probleme
    "Ich glaube, dass Literatur die Menschen dazu bringen sollte, sich um die Probleme in der Gesellschaft zu kümmern. Ich möchte die Menschen dazu anhalten, nicht nur über ihren eigenen Vorteil, die eigene Karriere nachzudenken, sondern darüber, was in ihrem Land falsch läuft und was sie dagegen tun können. Unbestreitbar, die politischen Umstände haben sich verbessert. Das totalitäre Regime musste abdanken, das Militär herrscht nicht mehr über das Land. Indonesien ist eine Demokratie. Wir haben die Freiheit, unterschiedliche Parteien zu wählen und offen unsere Meinung zu sagen. Aber andererseits hat der religiöse Fundamentalismus zugenommen. Die Regierung ist schwach – diese Schwäche nutzen religiöse Gruppen. Radikale Islamisten spielen eine immer größere Rolle in der Gesellschaft. Sie können mittlerweile tun, was sie wollen. Das war zuvor, während der Diktatur, anders."
    Indonesien, das größte islamische Land der Welt, hat sich lange als Ort eines moderaten Islam verstanden. Die Religion wurde über Jahrhunderte friedlich und mit großer Toleranz auch für andere Glaubensrichtungen praktiziert. Doch diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Madasari, deren schnörkellose und explizite Prosa die journalistische Schule nie verbirgt, beobachtet mit Unbehagen, wie die Wächter einer rigiden Moral im Land lauter und einflussreicher werden und dabei auf immer größeren Rückhalt in der Bevölkerung stoßen. Wie groß die Verunsicherung ist, zeigt die Politik von Madasaris Verlag, Gramedia, dem mit Abstand größten Verlagskonzern im Land.
    "Es gibt eine Selbstzensur in meinem Verlag. Der Verlag wollte die Konfrontation mit extremistischen Gruppen vermeiden. Ich musste deshalb einiges verändern, bevor das Buch herauskam und dann noch einmal, eine Woche nachdem das Buch bereits erschienen war. Seitdem gibt es den Roman nur in dieser korrigierten Fassung. Eigentlich wollte ich das Anliegen meines Verlags zurückweisen, aber dann habe ich mich anders entschieden. Unser großes, gemeinsames Ziel ist es, dass mein Buch von so vielen Menschen wie nur möglich gelesen wird. Einige Wörter oder Absätze zu streichen ändert nichts an der Substanz. Daher habe ich schließlich zugestimmt."
    Doch auch in der revidierten Fassung, die etwa ohne manch expliziten Hinweis auf die Radikalisierung islamischer Geistlicher auskommen muss, ist "Gebunden – Stimmen der Trommel" ein verstörender Roman. Er ist Gegenprogramm zu einer in Indonesien weit verbreiteten, häufig religiös verbrämten Erbauungsliteratur, die jedoch ungleich erfolgreicher ist. Denn mit wundersamen Aufstiegsgeschichten identifiziert sich die Mehrheit weitaus lieber, als sich mit den Problemen einer jungen Demokratie zu beschäftigen. Okky Madasari, die sich auch als Menschenrechtsaktivistin engagiert, lädt nicht ein zur Flucht vor einer schwierigen Gegenwart. Ihr Buch konfrontiert den Leser vielmehr mit den gewaltigen Herausforderungen einer post-diktatorischen Gesellschaft.
    Okky Madasari: "Gebunden – Stimmen der Trommel"
    Aus dem Indonesischen von Gudrun Ingratubun
    Sujet Verlag, 360 Seiten, 19,80 Euro