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"Rosenthals Kinder" am Bolschoi-Theater

Der Russe Vladimir Sorokin ist Autor skurriler Romane in bester absurder Tradition. Er ist aber auch Autor eines Librettos, das gegen Widerstände am lange als verstaubt verschrieene Bolschoi-Theater aufführt wird. Die Auseinandersetzungen um die "pornografische Inhalte" im Vorfeld haben der Oper eine unglaubliche Werbung verschafft.

Von Anastassia Boutsko | 23.03.2005
    Kennen sie nicht den Rosenthal? Der war ein großer deutsch-jüdischer Gelehrter. Noch in den 30-er Jahren entwickelte er eine Methode, die erlaubte, unterschiedliche Lebewesen – und schließlich auch Menschen zu klonen. Gezwungen, vor den Nazis zu fliehen, landete er in der Sowjetunion und erhielt von Stalin den Auftrag, die "Helden der Arbeit" am laufenden Band zu produzieren. Doch in den Tiefen seines Labors brütete Rosenthal an einem anderen ambitionierten Projekt: einer nach dem anderen, kamen seine fünf Kinder zur Welt: Tschajkovskij, Verdi, Musiorgskij, Wagner – und zu guter Letzt der kleine Mozart.

    "Ich bin kein Erfinder, ich will nichts Neues erschaffen. - sagt Leonid Desyatnikov. Ich habe meine Aufgabe stets darin gesehen, ein gewisses Resümee zu schaffen, ein Thema abzuschließen. Vielleicht habe ich die letzte russische Oper geschrieben. Auf jeden Fall ist sie eine Ommage an die musikalische Erbe des 19. Jahrhunderts und ein Nachdenken über die klassische Oper…"

    Die Geschichte über fünf geklonte Komponisten, die in der Sowjetunion aufwachsen um im modernen Russland auf der Straße zu landen und mit dem Elend der "Erniedrigten und Beleidigten" in Berührung zu kommen, hat Wladimir Sorokin geschrieben. Der berühmteste der russischen Post - und nun "Post-postmodernisten" – versucht sich, nach mehreren Drehbüchern, zum ersten Mal auch als Librettist. Mit Desyatnikov verbindet ihn nicht nur gemeinsame Liebe zum Spiel mit unterschiedlichen Stilen, sondern auch eine alte Freundschaft.

    Sorokin hat viel mehr Erfahrung mit den Hütern der Sittlichkeit. Bereits 2002 verbrannten die Vertreter der Putin-nahen Jugendbewegung "Die zusammen Schreitenden" Sorokins Bücher vor dem Bolschoj in einer überdimensionalen Toilette.

    Nun sind die wieder da – Wichtigkeit in die Gesichter geschrieben, halten die "Neukomsomolzer" stumm Wache an ihrer improvisierten Barrikade vor dem Theater. Die ältere Generation hat sich mit roten Flaggen dazugesellt:

    "Diesem Autor ist alles zuzutrauen. Ihm ist nichts heilig. Auch unser allerheiligste, das Bolschoj Theater, Tschajkovskij – er macht vor nichts halt!"

    Der Weg aus der Staatsduma zum Bolschoj ist nicht weit – gerade 200 Meter. Jedoch sind die Deputierten gar nicht zahlreich zu der Generalprobe erschienen – nur paar Dutzend sind da, ein Bruchteil von den 226, die dafür gestimmt hatten, "die Situation im Bolschoj-Theater unter Kontrolle zu nehmen". Auch der Deputierte Sergej Neverov, der Sorokins Libretto "pornografische Inhalte" vorgeworfen hatte, ohne es zu lesen, ist nicht gekommen. Nun hat er den Text studiert und ist natürlich unzufrieden. Zwar benehmen sich Chruschtschov und Stalin, die in Sorokins "blauem Speck" eine homosexuelle Liaison führen, in "Rosenthals Kinder" schön artig. Aber, wie die weibliche Vertretung des Herrn Neverov sagt:

    "Die Chöre haben etwas Merkwürdiges gesungen. Und manchmal kommen da Worte und Ausdrücke, die zu umgangssprachlich, ja grob sind. Wir sind dagegen, dass so etwas auf der Bühne des Bolschoj-Theaters aufgeführt wird."

    Den Namen des Komponisten kann Herr Neverov nicht einmal richtig aussprechen.
    Dabei ist der 50-jährige Desyatnikov einer der bedeutendsten der neuen russischen Komponistengeneration. Der in Charkov, in der Ukraine, geborene Wahlpetersburger hat seine Zugehörigkeit zu der "Avantgarde" immer abgelehnt. Selbst charakterisiert er seinen Stil als "Minimalismus mit menschlichem Antlitz". "Rosenthals Kinder" ist auch sein erstes richtiges Opernkind. Eigentlich ist es keine Oper im klassischen Sinne des Wortes, sondern eine scharfsinnige und witzige Kollage. Die fünf Protagonisten sind auch durchgehend musikalisch in unterschiedlicher Form vertreten – von direkter Zitat bis Parodie.

    Das politische Bremborium hat der Oper eine unglaubliche Werbung verschaffen, jedoch ist der entnervte Komponist nicht in der Lage, sich darauf zu freuen.
    Die Vitalität der Geister der vergangen geglaubten Zeiten überrascht ihn zwar, aber…

    "... das bleibt für mich eine "parallele Welt". Wenn ich durch die Straße gehe und ein Backstein fällt mir auf den Kopf - tja, dann ist für mich zwar eine traumatische Berührung mit der Welt der Backsteine, aber ich werde dadurch nicht zum Teil von dieser Welt. Oder: ich mag gerne Tiere, Katzen wie Hunde, aber wie soll ein Kulturdialog mit der Katze aussehen? "