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Ross-Raisin-Roman
Durch alle Netze gefallen

In seinem Roman "Unter der Wasserlinie" erzählt der britische Autor Ross Raisin die Geschichte eines entlassenen Werftarbeiters, der nach mehreren Schicksalsschlägen völlig abstürzt. Das Werk fesselt und verstört – und erweckt ganz nebenbei ein vergessen geglaubtes Genre wieder zum Leben.

Von Brigitte Neumann | 15.08.2014
    Blick auf die Werft von Hyundai Heavy Industries im südkoreanischen Ulsan am 29.09.2010
    Mit der Kündigung seines Jobs bei einer Schiffswerft beginnt für den Protagonisten in Raisins Roman ein tiefer Absturz. (picture alliance / dpa / Jeon Heon-Kyun)
    Ross Raisins Roman "Unter der Wasserlinie" liest sich wie der Auftakt zur Wiedergeburt einer literarischen Gattung, die eigentlich schon einmal für tot erklärt wurde: die Literatur aus der Arbeitswelt, der sozialkritische Roman.
    "Selbst als die Entlassungen verkündet wurden, blieben sie eisern auf der Werft, arbeiteten weiter und ließen die Insolvenzverwalter und die ganzen anderen Ärsche nicht am Pförtner vorbei. (...) Kaum zu glauben, wenn man's von heute aus betrachtet, dass sie damals gewonnen hatten."
    Wir erinnern uns: Vor rund 40 Jahren richteten Verlage hierzulande ganze Buchreihen unter dem Titel Literatur aus der Arbeitswelt ein. Was dort erschien, sollte der Selbstversicherung und Emanzipation der Arbeiterklasse dienen. Dann verschwand der Klassenbegriff, einige Soziologen schrieben über die Nivellierung der Gesellschaft. Die Buch-Reihen wurden eingestellt.
    Aber nun sind andere Zeiten angebrochen. Und es gibt wieder Bedarf an sozialkritischer Literatur, dieses Mal jedoch aus einem anderen Grund. Ziel ist nicht mehr Emanzipation und Aufstieg einer Klasse, sondern eher eine Bestandsaufnahme: Was geht eigentlich vor? Welche Verheerungen richtet die Wirtschaftskrise in unseren Gesellschaften an? Einige Autoren aus Schottland, zum Beispiel James Kelman, John Burnside, A.L. Kennedy, haben dieses Thema schon lange auf der Agenda. Was daran liegen mag, dass Schottland sich von der großen Werftenkrise Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute nicht erholt hat.
    Ross Raisins stammt nicht aus Schottland, sondern aus Yorkshire. Aber sein Roman "Unter der Wasserlinie" nimmt in Glasgow seinen Anfang. Deutlicher als bei den eben genannten Autoren, handelt es sich hier um engagierte Literatur, um Literatur, die etwas bewirken will, einen Appell enthält: Hört mal, eine Gesellschaft, die ungerührt dabei zusieht, wie ein braver Mann ins Elend stürzt, kann doch nicht die Gesellschaft sein, in der wir leben wollen! Wir haben gelernt, dass gut gemeint meist schlecht geschrieben ist – das trifft aber in diesem Fall nicht zu.
    Raisins Protagonist, der 59-jährige Mick Little, hat zu Beginn des Romans gerade seine Frau verloren. Er sieht die Kondolenzkarten durch, eine ist von Pete, der jetzt Arbeit auf einem Hafenkran gefunden hat, der neuen Touristenattraktion Glasgows, mit rosa Drehrestaurant. Mick ist skeptisch, ob sich jemand für die Aussicht von dort oben interessieren wird.
    Stilistische Makel auf den ersten 50 Seiten
    "Man fragt sich, wie die auf so was kommen. Panoramablick schön und gut, aber wenn man in jeder Richtung bloß matschiges Niemandsland sieht – Cliquen von Gören, die Fußball spielen und rauchen, Tauben, die auf den rostigen Fabrikhallen hocken und sie vollscheißen -, schmeckt der Mozzarella auch nicht unbedingt besser, oder?"
    "Unter der Wasserlinie" besteht hauptsächlich aus dem inneren Monolog Micks. Ein innerer Monolog, der vom Autor geführt wird, so, als überblicke er sowohl Innen- als auch Außenleben seines Protagonisten. Raisin stellt das Fremdartige, Skandalöse dieses Schicksals heraus. Deshalb liest sich Micks Gedankenstrom wie ein Interview-Mitschnitt, stellenweise auch wie eine Reportage oder wie eines dieser aufgezeichnet-von-Gespräche. Da Ross Raisin auch als Journalist arbeitet, dürfte er alle diese Formate kennen. Er hat an vielen Stellen für "Unter der Wasserlinie" recherchiert: Bei Hilfsorganisationen für Obdachlose, bei schottischen Gewerkschaften, bei Heimbetreibern, er hat mit Asbest-Opfern geredet. Und sich so wohl damit vertraut gemacht, was passiert, wenn alle Stricke reißen. Wenn einer fällt und kaum noch jemand, kaum noch eine Einrichtung da ist, diesen Fall zu stoppen. Was passiert dann im Inneren dieses Menschen?
    Mick Little hat die Entlassungen bei verschiedenen Werften einigermaßen weggesteckt. Dabei halfen die Gewerkschaften, die Streiks, die Solidarität und es half der Kumpel mit dem Taxi-Betrieb, wo Mick später gelegentlich Geld verdienen konnte. Cathy musste auch eine Arbeit annehmen. Aber das war nicht so schlimm, denn die Söhne Craig und Robbie waren da schon aus dem Gröbsten raus. Dann aber stirbt Cathy, nach 35 Jahren Ehe. Und diesen Schlag steckt Mick nicht mehr weg.
    "Er hat dieses Gefühl, von den Dingen losgelöst zu sein. Als wäre alles um ihn herum – die Sonne, der grinsende Moderator im Fernsehen, die Briefe, die auf die Fußmatte fallen – Teil eines anderen Lebens, eines Lebens, das er zwar sehen kann, mit dem er aber nichts zu tun hat. Echt bekloppt. Aber so fühlt es sich an. Und auch, wenn er genau weiß, dass sie jetzt nicht die Treppe runterkommt und die Post aufsammelt, die Tür aufmacht und mit dem Briefträger schwatzt, so kann er doch das Gefühl nicht abschütteln, dass sie es tut. Dass sie zu diesem anderen Leben gehört, dem wirklichen, von dem er ausgeschlossen ist."
    Manchmal holpert es stilistisch: "Echt bekloppt.", das passt hier nicht hin. Denn Raisin verlässt an dieser Stelle den von Autorenseite erzählten inneren Monolog Micks, indem er ihn für ein paar Worte in die Ich-Erzähler Rolle holt. Dann geht's weiter in der Er-Perspektive. Außerdem: Raisin schildert Mick Little als einen Mann, der streng mit sich ins Gericht geht. Unwahrscheinlich, dass so einer plötzlich ins Joviale kippt. "Echt bekloppt."
    Die meisten dieser "Haltungsfehler" stehen auf den ersten 50 Seiten. Die sollte der Leser ausnahmsweise geduldig ertragen, denn dann ist es so weit. Die Beerdigungsgäste sind abgereist. Und der Held beginnt seine Höllenfahrt, indem er sich jeden Tag ein wenig mehr in einem Kokon aus Angst, Scham und Schuld einspinnt. Schuld, weil er sich sicher ist, dass er den Tod seiner Frau verursacht hat. Sie starb an Asbestose. Und den Asbest hatte er von der Werft auf seinen Overalls mit nach Hause gebracht.
    Ein Kokon aus Angst und Einsamkeit
    Raisin beschreibt, wie bei Micks Untergang drei Dinge zusammenkommen: eine gnadenlose Gesellschaft, die nach dem Motto 'Jeder ist seines Glückes Schmied' funktioniert; ein Mann, der sich für seine Hilflosigkeit schämt; und das Versagen der Gewerkschaften, die sich nur für Besitzer eines Arbeitsplatzes zuständig fühlen. Prekär Beschäftigte, wie Mick nach seiner Entlassung einer ist, fallen aus dem gewerkschaftlichen Solidarsystem und verlieren so ein wichtiges soziales Netz.
    Mick flieht aus Glasgow nach London, weil ihn dort niemand kennt. Er findet eine Arbeit in einem billigen Flughafenhotel als Spüler – für ein paar Wochen, dann fliegt er wieder raus, kann sein Zimmer nicht mehr bezahlen und wird obdachlos. Um seine wachsende Scham zu betäuben, trinkt Mick nun exzessiv und wäre sicher im Londoner Winter erfroren, wenn sich nicht ein anderer Obdachloser seiner angenommen hätte. Am Ende organisiert der neue Freund, ebenfalls ein schwerer Trinker, für beide feste Zimmer in einem Heim. Aber Mick wagt sich nur sehr langsam aus seinem Kokon.
    "Eine träge, bleierne Traurigkeit lastet auf ihm. Er fühlt sich verloren – hilflos. Jetzt, wo er nicht mehr dafür sorgen muss, es warm und sicher und was zu essen zu haben, ist es, als sei eine Schutzschicht verschwunden, und nun treibt er im freien Raum, ohne etwas, was ihn vor seinen Gedanken schützt. Er liegt auf dem Bett oder sitzt auf dem Pflaster, die Augen fest zugekniffen, und wartet darauf, dass sie wieder gehen, aber dann steht er vor dieser großen, unbeweglichen Starre in seinem Inneren."
    "Unter der Wasserlinie" von Ross Raisin ist kein perfekter Roman. Aber trotz einiger formaler Fehler und einer nicht immer befriedigenden Übersetzung – das Original ist in Glasgower Mundart geschrieben, die Übersetzung ignoriert das, dafür lesen wir manchmal einfach schlechtes Deutsch - trotzdem ist das Buch zu empfehlen. Es zeigt, was Armut aus einem Menschen machen kann. Es zeigt, wie wichtig es ist, dass auch Verlierer eine Stimme bekommen, denn allein damit erhalten sie schon einen Teil der verlorenen Würde zurück. Und Ross Raisin, ein wahrer Magier in Sachen Einfühlung, zeigt, dass die Würde der Verlierer auch unsere Würde ist. Alles in allem: "Unter der Wasserlinie" ist eine gelungene Wiedererweckung des sozialkritischen Romans.
    Ross Raisin: Unter der Wasserlinie
    Roman, Aus dem Englischen von Arnd Kösling
    Blessing, 368 Seiten, 19,99 Euro (D) ET: 14. April 2014