Dienstag, 19. März 2024

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Rostock-Lichtenhagen 1992
Wut, Hass, Brand - und alle gucken zu

Das Sonneblumenhaus brennt. Angezündet vom rechten Mob - angefeuert und bejubelt von tausenden Schaulustigen. Die Polizei war den Randalierern zeitweilig hoffnungslos unterlegen. Wie konnte es vor 25 Jahren zu den tagelangen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen kommen? Eine Chronik der Ereignisse.

Von Nathalie Nad-Abonji | 22.08.2017
    Ein Mann steht am 27.08.1992 vor brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen. Vom 22. bis 28. August 1992 randalierten bis zu 1.200 meist jugendliche rechtsradikale Gewalttäter vor dem Zentralen Asylbewerberheim Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen. Unter dem Beifall von bis zu 3000 Schaulustigen und vielen Fernsehkameras bewarfen die Rowdies das überwiegend mit Rumänen belegte Hochhaus (Sonnenblumenhaus) sowie die Polizisten mit Steinen und Brandsätzen. Foto: Bernd Wüstneck | Verwendung weltweit
    Dem Brand des Asylbewerberheims gingen spürbare Spannungen voraus. (dpa-Zentralbild)
    Lichtenhagen. 1992 ein Neubaugebiet mit rund Zwanzigtausend Einwohnern, viele von ihnen arbeitslos. Im sogenannten Sonnenblumenhaus, einem Plattenbau mit mehreren Aufgängen, richtet das Land Mecklenburg-Vorpommern die Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge - kurz ZAST - ein. Gleich daneben das Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter, die schon zu DDR-Zeiten dort leben. Wolfgang Richter ist damals Ausländerbeauftragter von Rostock. Er erinnert sich an die heikle Situation im Stadtteil:
    "Unabhängig von dieser Zuspitzung war mein allererster Eindruck dort draußen, dass auch die Flüchtlinge, die dort waren, eine ausgesprochen schlechte soziale Begleitung, Beratung gehabt haben. Und dass es vor allem in der Umgebung mit den Anwohnern Spannungen gab."
    Tagelang ohne Essen, Toiletten, Dach über dem Kopf
    Es beginnt im Frühjahr '92: immer mehr Flüchtlinge kommen mit Bussen in Lichtenhagen an. Vorwiegend Roma und Sinti. Vor der ZAST mit 280 Plätzen bildeten sich lange Menschenschlangen. Einen Asylantrag können sie nur im Gebäude selbst stellen. Wolfgang Richter:
    "Für die, die auf der Wiese darauf warteten, diesen Antrag stellen zu können, gab es keine finanzielle Unterstützung. Und sie wurden eben sich selber überlassen."
    Die Flüchtlinge kampieren tagelang mit ihren Kindern auf der Wiese - ohne Essen, ohne Toiletten, ohne Dach über dem Kopf.
    Spannungen mit den Anwohnern spitzen sich zu
    Während Politiker sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, spitzt sich die Situation zu. Eine Anwohnerin von damals:
    "Sehen sie das beim Deutschen? Wir können unsere Kinder nicht mehr auf die Straße schicken, denen ziehen sie die Fahrräder unter dem Hintern weg, wir können nicht in der Halle einkaufen gehen wir werden belästigt."
    "Das habe ich vorhergesehen: Hier passiert was. Das war ja fast Kriegszustand - hier passiert was, das war hundertprozent klar. Für die Bürger auch. Und es ist auch was passiert."
    Sagt Hermann Gensich heute. Damals gehört ihm die Kaufhalle vor dem Sonnenblumenhaus.
    [Atmo] "Wir kriegen euch alle."
    Die Krawalle beginnen
    Dann kommt der 22. August: der erste Abend des Pogroms. Etwa 2.000 Menschen versammeln sich auf der Wiese vor der ZAST. Darunter sind rund 400 gewaltbereite Jugendliche. Sie werfen Steine und Betonplatten, bald den ersten Molotowcocktail.
    [Atmo] "Ausländer raus, Deutschland den Deutschen"
    Zwei Tage später: der 24. August 1992, der wütende Mob tobt - jubelt, wenn ein Molotowcocktail an der Hauswand explodierte und bietet den Krawallmachern immer wieder Unterschlupf in der Masse.
    Überforderte Polizei zieht sich zurück
    Die Roma und Sinti sind inzwischen in Sicherheit gebracht worden. Daran, dass sich nun die Wut an die Vietnamesen im Aufgang nebenan richten könnte, denkt vermutlich niemand. Sie, der Ausländerbeauftragte und ein Kamerateam sitzen im Sonnenblumenhaus fest. 150 Menschen fürchten um ihr Leben, während sich draußen schlecht ausgerüstete Polizisten zurückziehen. Die Polizei befindet sich diesem neuen Bundesland erst im Aufbau. Günter Niemand ist damals Hundertschaftsführer und Ausbilder. Heute ist er pensioniert.
    "Wenn ich richtig erinnere, wurde ein Dienstfahrzeug umgestoßen, ein B 1000, und die Kollegen haben ja dann teilweise den Rückzug angetreten. Ich möchte nicht sagen, die Flucht angetreten, aber den Rückzug angetreten."
    Mittäterschaft der Bevölkerung
    Die im Haus Eingeschlossenen müssen sich selbst helfen und flüchten über das Dach in einen anderen Aufgang. Wolfgang Richter kurz nach seiner Rettung:
    "Was heute passiert ist, ist ein einziger Skandal. Die Leute wussten, dass hier Vietnamesen drin sind."
    Die vietnamesischen Vertragsarbeiter werden noch in der Nacht in Sicherheit gebracht. Doch damit ist Lichtenhagen noch nicht befriedet. Es folgte eine weitere Nacht der Gewalt, die sich nun ausschließlich gegen die Polizei richtet. Die Beamten sprechen schon kurz danach von einer Mittäterschaft der Bevölkerung.
    Jahre später können in einem Prozess nur drei Täter verurteilt werden.