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Rudolf Borchardt
Die Ideen des Gartens

In Rudolf Borchardts Reflexion über den Garten, wie in der von ihm herausgegebenen Sammlung deutscher Reisebeschreibungen, drückt sich vor allem eines aus: Borchardts Glaube daran, dass der Landschaft und somit auch Gärten die Ordnung des menschlichen Geistes auferlegt ist.

Von Thomas Palzer | 10.06.2018
    Rudolf  Borchardt: "Der leidenschaftliche Gärtner" (links) und "Der Deutsche in der Landschaft" (rechts)
    Rudolf Borchardt: "Der leidenschaftliche Gärtner" und "Der Deutsche in der Landschaft" (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag, Foto: Gerda Bergs)
    Der Garten ist ein geschützter Ort, ein hortus conclusus, ein Exil, das von den Routinen des Alltags erlöst. Der Garten wächst nicht auf Befehl - und bildet so den absoluten Gegensatz zur technischen Zivilisation, in der alles auf Befehl und Knopfdruck geschieht und handelt. Der Garten ist aber daneben auch das Andere der Natur - der gewachsenen wie der industrialisierten, der Plantage. Und zuletzt ist der Garten ein Ideal.
    Exil und Ideal ist der Garten jedenfalls für den deutschen, einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammenden Dichter Rudolf Borchardt gewesen - Ideal und Exil, das in Gestalt verschiedener Villen und dazugehöriger Gärten in Italien lag, zunächst war es selbstgewählt, später von den Nazis erzwungen.
    In Italien lebt Borchardt als Untermieter toskanischer Landsitze, deren Gärten und Gartenanlagen er bewirtschaftet. Und dort entdeckt der Dichter, der auf das altsprachliche Gymnasium große Stücke hält und vom Studium der Altertumskunde geprägt ist, die Villa als Lebensform - und eben die Leidenschaft des Gärtners, welche er 1938 in dem fast gleichnamiges Buch Der leidenschaftliche Gärtner verewigt.
    Der Mensch, so stellt er darin programmatisch fest, entstammt einem Garten, er entstammt keineswegs, wie die moderne Biologie sagt, der rauen und rohen Natur.
    "Wir sind über den Heimatgarten der Menschheit genügend unterrichtet, um eine Vorstellung von seiner technischen Struktur zu haben. Er war, wie alles urälteste Menschliche, eine ganz symmetrische Anlage, genauer gesagt eine geometrische. Alles Menschliche beginnt darum weil der menschliche Geist eingeatmeter göttlicher Geist ist, als eine Ordnung, und muss auf dem Weg der von Gott verhängten Unordnung wieder eine Ordnung werden. Der Garten Eden war eine quadratische Anlage, durch ein Kreuz von vier aus seiner Mitte entspringenden Flüssen symmetrisch aufgeteilt und bewässert."
    Am Anfang ist der Garten - und als solcher ist er Antidot zu dem, wozu wir Natur sagen, denn diese ist Natur nach dem Sündenfall, nach der Vertreibung aus dem Garten Eden, ist also gefallene und verderbte Natur. Der Mythos von der Naturwüchsigkeit aller Dinge setzt Borchardt folglich einen schöpferischen Mythos entgegen, nämlich den, das alles einem Garten entsprungen ist – einem Gebilde, dem eine geometrische Ordnung zugrunde liegt, die der Natur verloren gegangen ist. Deshalb besteht die Aufgabe des Gärtners darin, die geordnete Form des Gartens in die Natur zurückzutragen, mit anderen Worten: aus roher Natur einen Garten zu bilden - ganz so, wie das altsprachliche Gymnasium aus jungen und rohen Heranwachsenden Seelen bildet.
    Denn der Garten, eine Ordnung der menschlichen Seele, und allen anderen ihrer Ordnungen verwandt, ist eine Ordnung der ganzen Seele und nicht der halben, der tätigen und nicht der schlaffen, und kennt keinen ästhetischen Frömmler, es sei denn als den Spazierer, dem er nichts verargt: der Garten will den Gärtner.
    Ästhetisches Programm
    Der Garten ist ein Kunstwerk, insofern der Garten Borchardts ästhetisches Programm sinnlich veranschaulicht. Darum gehört das Gartenbuch das lange als bloßes Beiwerk betrachtet wurde, in das Zentrum von Borchardts Schaffen, hier haben wir gebündelt sein ganzes Programm – ein Programm, wonach wir im Kunstwerk die Wiederholung eines archaischen Zustandes finden oder sogar dessen restaurative Neuschöpfung: Der leidenschaftliche Gärtner wiederholt in seinem Garten den Garten Eden und restauriert ihn schöpferisch. Es ist ein platonisches Programm.
    Borchardt entwickelt in Der leidenschaftliche Gärtner die humanistische Idee eines Weltgartens, die er Goethes Idee einer Weltliteratur nachbildet. Der Garten ist ihm anschaulich gewordenes Abbild einer geistigen Ordnung, die aller Schöpfung zugrunde liegt – nämlich schon dem Anfang aller Anfänge, dem Paradies und Garten Eden.
    Wenn also dies Buch, wie einige seiner Leser wissen, für seinen Verfasser eine Abschweifung von den Zielen ist, denen die Tätigkeiten seines Lebens gehören, so ist es darum doch keineswegs als ein Beiwerk entstanden, denn solche Beiwerke gibt s nicht. Es ist in der entschiedenen Absicht geschrieben worden, zwischen dem menschlichen Garten und dem menschlichen Geiste eine Verbindung zu schaffen.
    Im Sinne Borchardts ist der Gärtner die höchste Form, zu der sich der Mensch aufschwingen kann - der Gärtner ist gerade nicht etwas, was im Menschen vorausgesetzt werden kann, bloß weil es den Handel mit gärtnerischem Bedarf und die Pflanze als Ware gibt.
    Dies Buch geht nicht von der ärmsten Möglichkeit aus, sondern ganz absichtlich von der reichen. Es mutet dem Leser und dem Gärtner etwas mehr zu als er listen kann, weil es weiß, dass nicht den Menschen so fördert und darum auf die Dauer praktischer ist, als ihm etwas zuzutrauen.
    Im Garten offenbart sich der Kultur- und Gestaltungswille des Menschen – und deshalb ist für den Goethe-Liebhaber Borchardt auch der Weimarer Musenhof eine Art Garten - Chiffre für ein vergeistigtes Gefühl des Daseins, wie es die späthöfische Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat – und im Werk des Schriftstellers zugleich Chiffre ist für die große kulturelle Vergangenheit: Weimar als Ausdruck des deutschen Geistes - und das 18. Jahrhundert als Zeuge der Geburt der schöpferischen Seele.
    Poesie und Wissenschaft gehen in diesem Weimar noch keine getrennten Wege, und die sinnliche Welt ist noch weit davon entfernt, als unzuverlässig und "unwissenschaftlich" entwertet zu werden. Diese für das 20. Jahrhundert radikale Unzeitgemäßheit macht aus ihm, den Zeitgenossen Borchardt, den natürlichen Gegner, dem es obliegt, an der Moderne harsche Kritik zu üben. Auf den Punkt kommt seine spezifisch anti-moderne Haltung im ersten Satz des legendären "Villa"-Aufsatzes aus dem Jahr 1907:
    "Das Italien unserer Ahnen ist, wie man weiß, seit die Eisenbahnen es für den Verkehr verschlossen haben, eines der unbekanntesten Länder Europas geworden."
    Borchardt schreibt das, so muss man wissen, ein Jahr, nachdem er mit seiner ersten Frau, der Malerin Karoline Ehrmann, nach Italien übergesiedelt ist. Hinter jedem Gedanken, so kann man ganz materialistisch sagen, versteckt sich stets das biographische Detail.
    Rudolf Borchardt war freilich ganz und gar kein Materialist. Für ihn besitzt der Geist unbedingten Vorrang vor der Natur. Das ästhetische Programm, welches er vertritt, lässt sich vielleicht am besten so zusammenfassen: Es geht in ihm um die Restauration von Urzuständen - das heißt darum, einen Zustand wiederherzustellen, der nur: "... in der geistigen, poetisch nachvollzogenen, nicht aber in der realen Geschichte je vorhanden war."
    Der deutsche Idealismus
    In gewisser Weise lässt sich das auch von der Reihe Naturkunden sagen, die seit 2013 im Matthes & Seitz Verlag Berlin erscheint und von der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky begründet worden ist und herausgegeben wird. Auch hier, in den Naturkunden, wird von einer geistig nachvollzogenen Welt berichtet, die es real so nie gegeben haben dürfte. Neben Titeln wie Wilde Wälder, Kröten, Nelken, Brennnesseln oder Schafe, neben Die Heilkraft der Natur, Der lebende Berg, Nashörner und Haustiere sind nun auch zwei Bücher von Borchardt in die Reihe aufgenommen worden - einmal eben Der leidenschaftliche Gärtner, postum 1951 aus Fragmenten im Nachlass veröffentlicht-, und zum anderen Der Deutsche in der Landschaft aus dem Jahr 1927, eine Anthologie, die Reiseschilderungen deutscher Schriftsteller versammelt und von Borchardt lediglich besorgt, also zusammengestellt worden ist.
    Anders, als letzterer Titel erwarten lässt, geht es Borchardt hier allerdings nicht um deutsche Landschaften, es geht ihm um deutsch angesehene Landschaften - also um das spezifische Verhältnis der Deutschen zur Landschaft. Dieses Verhältnis ist geschichtlich bestimmt, die Geschichte unterwirft sich die Natur - und insofern lässt sich eben von "deutscher", englischer" oder "italienischer" Landschaft sprechen. Es geht in dem Kompendium sonach weniger um das Aufzeigen nationale Spezifika und Charaktereigenschaften als um eine Form der Selbstbegegnung: In der fremden Landschaft begegnet der als solcher heimatlose Deutsche sich selbst. Oder, anders gesagt: Was die Geometrie für den Garten ist, ist die Geschichte für die Landschaft – eine geistige Ordnung, von der diese geprägt ist. Unter den Autoren das versammelte deutsche Pantheon des 19. Jahrhunderts: Goethe, Herder, Wilhelm Heinse, Johanna Schopenhauer, Georg Forster, Wilhelm von Humboldt, Alexander von Humboldt, Karl Immermann, Karl Friedrich Schinkel, die Droste-Hülshoff, Bettina Brentano, Novalis, Ludwig Tieck, Kleist, Stifter, Jacob Grimm und etliche andere, mit deren Namen heute niemand mehr etwas verbinden kann. Schon durch die Auswahl zeigt sich Borchardt in starker Opposition zur eigenen Gegenwart.
    Hugo von Hofmannsthal, sein Bruder im Geiste und seine Leitfigur, eröffnete mit dem Deutschen Lesebuch jene am Telos der geistigen Nation orientierte Reihe von Anthologien, die Borchardt mit dem Ewigen Vorrat deutscher Poesie und eben Der Deutsche in der Landschaft provokant fortführt. Schon 1927, bei Erscheinen der Anthologie ein Jahrzehnt nach Ende des Ersten Weltkriegs war das Wort deutsch prominent im Titel problematisch. Der Literaturwissenschaftler Franck Hofmann schreibt im Nachwort:
    "In seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit ist Rudolf Borchardt ein interessanter Fall, ein Gelehrter, der ein Werk hinterlassen hat, dem die Pathologien der Moderne wie kaum einem anderen abgelesen werden können."
    Gleich das zweite Stück, mit dem Borchardt seine Anthologie der nur deutsch gesehenen Landschaftsbilder anfangen lässt, gilt dem Blick auf eine Gartenlandschaft. Es stammt von Karl Philipp Moritz, Autor des psychologischen Romans Anton Reiser, und behandelt die Villa Borghese:
    "Könnt‘ ich doch von diesem reizenden Garten eine würdige Beschreibung machen, den sein großmütiger Besitzer ganz dem Vergnügen des Volks einräumt und dieses schönen Aufenthalts selber am vollkommensten genießt, indem er von Tausenden genossen wird. Man geht aus der Porta del Popolo rechts an der alten Stadtmauer hin, von der ein Stück schon seit Jahrhunderten der Einsturz droht und immer noch unerschüttert steht, ob es gleich den Anschein hat, als ob es in jedem Augenblick zusammenstürzen wollte."
    Eine Erfahrung des geliebten Daseins
    Pflanzenkleid und Landschaft stehen in einem engen physiognomischen Zusammenhang, wo das eine durch das andere erklärt wird, Stoff durch Form, Natur durch Geist. Nicht nur im Garten, auch in jeder Landschaft steckt die Erinnerung an den Garten Eden.
    Borchardts Landschaftsdenken folgt den Spuren des Mystikers Jakob Böhme, der Landschaft nicht als etwas Unberührbares und Naturgegebenes betrachtete, sondern als ein ästhetisches Gebilde - als etwas, in dessen Reflexion sich Geschichte spiegelt. In der Landschaft entziffert sich das Subjekt in seiner Zeitlichkeit.
    "Bei keinem anderen Dichter des 20. Jahrhunderts hat sich die Begrifflichkeit und Bildlichkeit von Landschaft und Natur so tief in Sprache und Denken eingesenkt wie bei Rudolf Borchardt", schreibt wiederum der Paderborner Literaturwissenschaftler Friedmar Apel in seiner Topographie Deutscher Geist und Deutsche Landschaft aus dem Jahr 1998.
    Die Praxis des Gärtnerns ist im Denken von Landschaft, wie es der Schriftsteller Borchardt versteht, ebenso mitinbegriffen wie Literatur und Poetik. Im Gespräch über Formen aus dem Jahr 1905 wird deutlich, dass die Formerfahrung der Landschaft oder Blume nach Borchardt als Erfahrung eines geliebten Daseins empfunden werden muss. Insofern ist die Anthologie der Landschaftsbilder auch eine Theorie der Form und eine Apologie des Geistes.
    Ich sage es Ihnen wieder, Harry, was ich Ihnen so oft gesagt habe, Leben heißt das große Wort, Leben, nur Leben, nicht Buch, und ich wollte, ich könnte es für Sie mit einem Atem von Schauer und Geheimnis, mit einer Wucht von wundervollem Irrsal so überfüllen, dass Ihnen der Ton nicht mehr vergessbar wird, mit dem es hier so oft ausgesprochen worden ist. Wem zehn Worte, die als das, was sie sind, so und nicht anders im Verse beieinander stehen, wem die so im Raume stehenden Linien, der so und nur einmal so von Farbe, Licht und Wind schütternde Baum, wem diese Unwiderruflichkeit der Formen nicht sinnliches, geliebtes Dasein schlechtweg sind, der glaube nicht zu leben. Unsere Sinne sind da und sind das einzige, was wir als vollste Gegenwart spüren, als geheimnisvoll rauschendes Blut, als Atem und rätselhaften Durst, als den ungeheuren dumpfen Drang, das unersättigte Aug und Ohr, als tiefste heiligste Sicherheit.
    Das Gartenreich als gewaltige Demokratie
    Der leidenschaftliche Gärtner kann nur vor dem Hintergrund des Borchardtschen Landschaftsdenken richtig verstanden werden. In Landschaft wie Garten findet nämlich das Unterschiedene und Besondere zur Einheit. Und in Garten wie Landschaft verbinden sich Sinnlichkeit mit Geistigkeit zur gestaltenden Praxis. Sie allein garantiert Selbst- und Weltgestaltung, garantiert die Einheit von Poesie und Wissenschaft.
    Formal verbinden sich in der Anthologie Reise und Zeitung, die beide nach Borchardt Kinder des Jahrhunderts sind. Der Deutsche in der Landschaft versteht der Schriftsteller und Redner nämlich als Feuilleton, wie er in seinem eigens verfassten Nachwort schreibt:
    "Reise und Zeitung, die beiden Kinder des Jahrhunderts, stehen von Anfang an und stehen bis auf den heutigen Tag in einer besonderen Verschwisterung, an der keine Auswahl vorbeigehen dürfte, umso weniger, wenn diese Verzweigung, wie es hier der Fall ist, aus einer örtlich fest eingewachsenen Wurzel entspringt. Das höhere deutsche Zeitungswesen literarischer und schöngeformter Richtung, das "Feuilleton", wie man es nennt, ist eine österreichische Schöpfung, an die besonderen Stufen der Gesellschaft und Geselligkeit der Bildung und des Gespräches gebunden, die Österreich von den dreißiger Jahren an erreicht und am Ende des Jahrhunderts klassisch krönt."
    Der Deutsche in der Landschaft ist ein Reader, dessen unverhohlenes Telos die eurozentrische Ordnung und ein mythisches Abendland darstellt. Im Gärtnerbuch dagegen wird am Beispiel globaler Migrationsbewegungen in der Pflanzenwelt das Gartenreich als gewaltige Demokratie gekennzeichnet – um gegen die völkische Landschaftsplanung Stimmung zu machen, gegen die Blödigkeit, die propagierte, dass man eine vermeintlich autochthone Pflanzenwelt gegen Eingeschlepptes schützen müsse. Pflanzenwelt und Landschaft stehen im Verhältnis von Tableau und Detail, wobei Borchardt im Gartenbuch, das gut zehn Jahre nach "Der Deutsche in der Landschaft" während des Dritten Reiches entsteht, dazu einlädt, sich auf Das Detail zu besinnen, auf die Blume – und sich vom großen Gemälde abzuwenden.
    "Wenn der Leser diese fünfhundert Seiten als eine Einheit im Sinne der Geschichte des deutschen Geistes empfindet – und wir hoffen das -, wenn er – und wir sind dessen sicher - durch die Empfindung und das innere Erlebnis dieser Einheit sich einen Teil jenes größeren Ganzen erarbeitet, das mit Recht das Jahrhundert des deutschen Geistes genannt worden ist, so tritt er in eine schwebende Geistergemeinschaft, eine organische mit denjenigen, aus deren zu Tage liegender und aus deren sich bescheiden verbergender Arbeit entstanden ist, was an diesem Buche eine Restitution verlorener deutscher Geistesgröße ist."
    Der Zeitgeist
    In beiden Werken, dem Gartenbuch wie dem Landschaftsreader, folgt Borchardt letztlich der Idee, dass der Geist unteilbar ist, dass alles Geist ist.
    Garten und Landschaft sind dabei zwei Phänomene, die eine Gegnerschaft zur sinnlich entwerteten Welt legitimieren, zu der die Moderne sie verarmen lässt.
    Blumen in der Landschaft ist ein Beitrag betitelt, den Borchardt in die Anthologie Der Deutsche in der Landschaft aufgenommen hat. In ihm ist Borchardt Anliegen auf den Punkt gebracht. Der Beitrag stammt von dem deutschen Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts als ein Fürsprecher des Landschaftsgartens empfindsam-romantischer Prägung galt. In dem Aufsatz heißt es:
    "Da, wo der Mensch ruht, wo er sich dem Genuss seiner Gedanken und Phantasien übergibt, wo er lieber fühlt als betrachtet, da sollen die wohlreichenden Blumengeschlechter den Kelch ihrer süßen, gewürzhaften, erquickenden Düfte eröffnen und seine Empfindung von der Wollust der Schöpfung durch die Befriedigung eines neuen Sinns erhöhen. Um Ruheplätze und Schlafgemächer, um Studierkabinette, um Speisesäle, um Bäder verbreite sich der Wohlgeruch der Märzviole, der Matronalviole, der Nachtviole, der gelben Viole oder Goldlack, der Levkoyen, der Monarden, der weißen Narzisse, der weißen Lilie, der Hyazinthe, der Nelke, der Migonette oder ägyptischen Resede, der Tuberose, der Tazette, der Jonquille usw. Der Genuss dieser Wohlgerüche breitet auf eine unbeschreibliche Art eine gewisse Erquickung und Milde über das ganze Inwendige des Menschen aus, Ruhe der Seele und sanftem, wärmenden Behagen."
    Borchardt stand in bewusster Opposition zu seiner Zeit, zu ihrem industriell verfertigten Utilitarismus. Er stand aber auch in bewusster Opposition zur Avantgarde von damals, der es gefiel, die Formen der Künste zu zerstören, während er sie ein letztes Mal durchspielte, auf die Kraft der Sprache vertraute und auf die der Tradition. Heute dagegen darf Borchardt, jedenfalls mit den beiden in den Naturkunden publizierten Werken, eher als Genosse des gegenwärtigen Zeitgeists betrachtet werden, wo, wie Christian Welzbacher im Nachwort schreibt, im Urban Gardening das Gärtnern wiederentdeckt worden ist. Die Beschäftigung mit Garten und Natur entsprang dem Geist der Lebensreform - der sich heute in der veganen Ernährung ebenso wiederfindet wie in der Renaissance des Wanderns oder dem Bestreben, mit der Natur eins zu werden – uva. mehr.
    Borchardt passt mit seinen beiden sprachlich und gedanklich avancierten Texten in die anspruchsvolle Reihe der Naturkunden, zumal, wenn man deren fortschrittsskeptischen Habitus in Rechnung stellt. Und doch ist er auch ein Autor, der jede Reihe, in die er gestellt wird, sprengt. Rudolf Borchardt ist in einem uneinholbaren Sinn originär – und lesenswert entgegen jeder Ideologie, die ihn für sich reklamiert, seien es rechte oder grüne oder sonst welche.
    Ralf Borchardt: "Der leidenschaftliche Gärtner"
    Hrsg.: Judith Schalansky, Rudolf Borchardt
    Berlin 2016: Matthes & Seitz Berlin, 333 Seiten, 25 Euro
    Ralf Borchardt: "Der Deutsche in der Landschaft"
    Hrsg.: Judith Schalansky, Christian WelzbacherReihe Naturkunden
    Berlin 2018: Matthes & Seitz Berlin, 552 Seiten, 25 Euro