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Rudolf Otto und die Erfahrung des Heiligen

Rudolf Otto (1869 -1937) war evangelischer Theologe und Religionswissenschaftler. Vor allem mit seinem Hauptwerk "Das Heilige" von 1917 hat er die Theologie, die Religionswissenschaft und die Religionspsychologie im 20. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst.

Von Alexander Grau | 08.01.2013
    "Ich habe das Sanctus, Sanctus, Sanctus von den Kardinälen in Sankt Peter und das Swiat, Swiat, Swiat in der Kathedrale im Kreml und das Hagios, Hagios, Hagios vom Patriarchen in Jerusalem gehört. In welcher Sprache immer sie erklangen, diese erhabensten Worte, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Überweltlichen, das dort unten schläft."

    Beschreibt der lutherischen Theologe Rudolf Otto seine Eindrücke und Gedanken anlässlich einer Orientreise im Jahr 1911. Seit diesem Zeitpunkt lässt Otto die Frage nach dem Heiligen, seinem Ursprung, seinem Wesen und seinen Formen nicht mehr los. Es ist das Thema seines Lebens.

    1917 veröffentlicht er dazu das Buch, das in berühmt machen sollte und das auch heute noch als Meilenstein der Religionspsychologie und Religionswissenschaft gilt: "Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen".

    Rudolf Otto wird am 25. September 1869 in Peine bei Hannover als vorletztes von 13 Geschwistern geboren. Der Vater besitzt eine Malzfabrik, man erfreut sich bescheidenen Wohlstandes. Kurz nachdem die Familie nach Hildesheim umgezogen ist, stirbt der Vater 1880. Rudolf ist zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt.

    Das kleinstädtische Milieu, in dem Rudolf Otto groß wird, ist streng lutherisch geprägt. In seinem Lebenslauf, den er anlässlich des 1. Examens verfassen muss, beschreibt er das intellektuelle Klima seines Umfeldes und sein damaliges Empfinden exemplarisch anhand der Auswahl seiner Literatur:

    "Keine Geschichte konnte ich mit Beruhigung lesen, bevor ich mich überzeugt hatte, dass die Menschen darin auch fromm und nicht etwa 'katholisch' oder Juden oder Heiden waren."

    Als Jugendlicher beschließt Rudolf Otto Pfarrer zu werden. 1888 immatrikuliert er sich für ein Studium der evangelischen Theologie in Erlangen. Die dortige Fakultät gilt damals als streng konservativ. Drei Jahre später wechselt er an die Universität in Göttingen. Dort herrscht ein ganz anderes Klima. Die theologische Fakultät in Göttingen gilt als eine Hochburg der modernen und liberalen Theologie.

    Dort beginnt Otto sich unter dem Einfluss liberaler Theologen mit Immanuel Kant auseinanderzusetzen. Wichtig für sein Denken wird jedoch vor allem der Kantianer Jakob Friedrich Fries. Der hatte in seiner Schrift "Wissen, Glauben und Ahndung" die Ahnung als eigenen Erkenntnismodus beschrieben. Anders als Wissen und Glauben beziehe sich die Ahnung nicht auf die Realität, sondern auf eine ideale Welt. Dementsprechend erwächst sie aus Gefühlen und ästhetischen Erfahrungen.

    Die Beschäftigung mit Fries weckt Ottos Interesse für die Psychologie, insbesondere für die Theorie der Gefühle. So kommt er schließlich auch in Kontakt mit den Schriften des amerikanischen Psychologen William James, des Begründers der modernen Religionspsychologie. Dieser hatte in seinem Standardwerk "Über die Vielfalt religiöser Erfahrung" religiöse Empfindungen als private, subjektive und ernsthafte Gefühle beschrieben, die keinen Erkenntniswert haben, sich aber auf die praktische Lebensführung des jeweiligen Individuums auswirken. Religion in diesem Sinne, so James, bedeute:

    "Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen."

    Auch für Otto ist Religion vor allem Gefühl. Hier ist er sich nicht nur mit William James einig, sondern auch mit dem großen protestantischen Theologen Friedrich Schleiermacher. Allerdings hatte Schleiermacher Religion als das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit beschrieben. Hier widerspricht Rudolf Otto mit Nachdruck.

    Für Otto besteht Religion nicht in einem universalen Gefühl der Abhängigkeit. Dieses Bild ist Otto zu ungenau. Schleiermacher verkenne hier, so Otto, das spezifisch religiöse Element. Abhängigkeitsgefühle gäbe es auch in ganz weltlichen Beziehungen. Das eigentlich Religiöse liege in der Erfahrung, einem allmächtigen Gott gegenüber zu stehen. Otto nennt diese Erfahrung "Kreaturgefühl". Dieses Kreaturgefühl besteht für Otto in dem Erleben einer konkreten "Geschaffenheit", einer "Geschöpflichkeit", die sich auf ein Objekt außer mir bezieht.

    "Worauf es hier ankommt, ist nicht bloß das Moment des Versinkens und der eigenen Nichtigkeit gegenüber einem schlechthin Übermächtigen überhaupt, sondern gegenüber einem solchen Übermächtigen."

    Das Objekt, das dieses Kreaturgefühl auszulösen vermag, nennt Otto "das Numinose". Das Numinose wird zum Schlüsselbegriff in Ottos Religionstheorie. Es bezeichnet das Heilige, allerdings ohne die sittlichen, moralischen oder auch ästhetischen Attribute, die wir dem Heiligen im Alltag zusprechen. Das Numinose, so Otto, beschreibt:

    "Das Heilige minus seines sittlichen Moments und, wie wir nun gleich hinzufügen, minus seines rationalen Moments überhaupt."

    Mit dem Numinosen bezeichnet Otto die Erfahrung mit dem ganz Anderen, dem Göttlichen, dem Letztendlichen, das sich jeder Begrifflichkeit und jedem Erkennen entzieht. Das Numinose, so Otto, ist der eigentliche Kern aller Religion. Das bedeutet, dass das Entscheidende an Religionen nicht ihre einzelnen Lehren, Überlieferungen und Gebräuche sind, sondern eben ihr emotionaler Bezug auf das Numinose. Dementsprechend hat das Numinose mehrere Aspekte, Otto spricht von Momenten, die ihm in jeder Religion zukommen. Ein Moment ist das schon erwähnte Kreaturgefühl. Ein weiteres ist das Gefühl des Erschauerns.

    Das schauervolle Geheimnis, das so genannte "Mysterium Tremendum", ist ein wesentlicher Teil der Erfahrung des Numinosen. Mysterium ist diese Erfahrung, weil sie sich nicht begrifflich fassen lässt. Schauervoll ist sie, da das Numinose unsere Vorstellung übersteigt. Deshalb ist das Schauervolle auch nicht mit Furcht oder Angst zu verwechseln. Vielmehr bezeichnet das Schauervolle eine existenzielle Grunderschütterung angesichts des Spürens einer unendlichen, nicht fassbaren Allmacht.

    "Denn Grauen ist nicht natürliche gewöhnliche Furcht, sondern selber schon ein erstes Sich-Erregen und Wittern des Mysteriösen, wenn auch zunächst in der noch rohen Form des Unheimlichen."

    Doch das Numinose ist nicht nur schauervolles Geheimnis. Es hat zugleich auch etwas Anziehendes, Faszinierendes: Otto nennt diesen Aspekt "das Mysterium Fascinans". Das Fascinans umfasst die Feierlichkeit und Gemütserhebung angesichts der Erfahrung des Numinosen. In seiner gesteigerten Form äußert sich das Fascinans als Überschwänglichkeit, im Christentum etwa als Erleben der Gnade, der Bekehrung oder der Wiedergeburt.

    "Eine Spur des Überschwänglichen aber lebt in jedem echten Gefühle religiöser Beseligung, auch wo es in Maßen und beherrscht auftritt."

    Das Numinose, das Objekt religiöser Erfahrung, hat also zwei Seiten. Es ist schauervoll und wundervoll zugleich, erschreckend und anziehend. Das Auftreten widersprechender Gefühle ist jedoch nicht allein der Religion vorbehalten. Auch beim Betrachten von Kunstwerken etwa, so Otto, kann man diese Gleichzeitigkeit von abgestoßen und angezogen sein erleben. Die Verbindung mitunter sehr unterschiedlicher Gefühle ist dabei allerdings nicht zufällig, sondern liegt in ihrer inneren Zusammengehörigkeit. Otto illustriert dies am Beispiel der Erotik:

    "Was diesem Gebiet zugehört, ist immer ein Zusammengesetztes aus Zweien: einerseits aus etwas das auch außerhalb der Erotischen vorkommt, wie etwa Freundschaft, Zuneigung und dergleichen, und anderseits aus einem Einschlag völlig anderer Art, der mit jenen Gefühlen nicht in einer Reihe steht."

    Wie das Triebhafte und Sexuelle mittels Freundschaft und Zuneigung rationalisiert und auf die Ebene des Erotischen gehoben wird, so durchdringt das Irrationale die rationalen Momente im religiösen Gefühl und verbindet sich mit ihnen zur "Idee des Heiligen".

    Der Untertitel von Ottos Hauptwerk "Das Heilige" lautet: "Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen". Das Irrationale liegt im Numinosen, das sowohl bedrohlich und erschreckend als auch faszinierend und anziehend ist. Dieses Irrationale ist für Otto der Ursprung aller Religion. Die rationalen Elemente im religiösen Gefühl treten erst nach und nach hinzu. Dies gilt für die Entwicklungsgeschichte einer Religion ebenso wie für die psychologische Entwicklung des einzelnen Gläubigen.

    "Die Scheu wird zur Andacht. Die verstreuten und verworren aufzuckenden Gefühle werden zur religio. Das Grauen wird zum heiligen Erschauern. Das numen wird zum Gott und zur Gottheit."
    Die Geschichte der Religion ist für Otto somit eine Rationalisierung des Irrationalen. Das Irrationale verschwindet dabei allerdings niemals vollständig, da es der Kern allen Religiösen ist. Zugleich erwächst aus dieser Diagnose für Otto eine kirchliche Aufgabe:

    "Die Sache des christlichen Kultus, der christlichen Verkündigung und der christlichen Glaubenslehre wird es sein, das Rationale in der christlichen Gottesidee immer auf dem Untergrund ihrer irrationalen Momente zu hegen und ihm so seine Tiefe zu sichern."

    "Das Heilige" war ein großer Erfolg. Allein bis zu Rudolf Ottos Tod 1937 erschienen 25 Auflagen. Ein Grund hierfür ist sicher, dass Otto das Thema Religion allein aus dem ganz subjektiven Erleben des einzelnen Menschen entwickelt. Zugleich schafft er es, sein Thema mit anderen, verwandten Phänomenen, etwa den Empfindungen beim Betrachten von Kunstwerken oder der Erotik zu verbinden. Dazu der Basler Theologe Georg Pfleiderer:

    "Die Faszination, welche Ottos Buch ausgeübt hat, dürfte genau darin gründen, dass auf diese Weise in der Tat der Eindruck eines einheitlichen 'Phänomengebietes', einer komplexen Lebenswelt entsteht."

    Genau hierin liegt allerdings auch die Schwäche von Ottos Buch. Der Autor verfährt rein spekulativ. Empirische Belege für seine Behauptungen kann er nicht vorlegen. Vieles an seinen Überlegungen gehört zwar zu dem Besten, was die Religionspsychologie seiner Zeit zu bieten hatte, wirklich zwingend ist seine Beschreibung der inneren Struktur religiöser Gefühle jedoch nicht.

    Diese Schwäche von Ottos Ausführung wurde schon unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buches gesehen. Und es war interessanter Weise wiederum ein lutherischer Theologe, der ein Mammutwerk vorlegte, das hier Abhilfe schaffen wollte.