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Rūdolfs Blaumanis: "Frost im Frühling"
Begründer der lettischen Moderne

Seine Figuren stecken meist in existenziellen Situationen: Rūdolfs Blaumanis gehört zu den wichtigsten lettischen Autoren. Nun sind sämtliche von ihm auf deutsch verfassten Erzählungen im Aisthesis Verlag erschienen - Dorfgeschichten, Künstlernovellen und impressionistische Skizzen.

Von Antje Strubel | 11.12.2017
    Sandstrand in der Nähe der lettischen Stadt Salacgriva.
    Symbolik und Gleichnishaftigkeit zeichnen die Geschichten des lettischen Schriftstellers Rudolf Blaumanis aus (picture alliance / dpa /Aakko Avikainen)
    Die Figuren in den Erzählungen von Rūdolfs Blaumanis stecken in existenziellen Zwickmühlen. Sie meinen die richtige Entscheidung zu treffen und entscheiden sich doch falsch. Es sind Parabeln, die die gesellschaftliche Moral ausloten und Gewissheiten des Zwischenmenschlichen infrage stellen. Bringt eine Liebesheirat tatsächlich mehr Glück als eine, die wirtschaftlichen Erwägungen folgt? Findet der Aufrechte mehr Anerkennung als der Lügner? Führt Sparsamkeit wirklich zu einem besseren Leben?
    Der Band "Frost im Frühling" versammelt Dorfgeschichten und Künstlernovellen, die dem Realismus und dem Naturalismus verpflichtet sind, ebenso wie impressionistische Skizzen, die das Stadtleben in Riga um die vorletzte Jahrhundertwende lebendig werden lassen.
    Blaumanis Schilderungen des Alltags und der Armut auf lettischen Bauernhöfen um 1900, die an Theodor Storm oder Gottfried Keller erinnern und naturalistische Anleihen bei Gerhard Hauptmann machen, mögen für heutige Leserinnen archaisch und etwas hölzern wirken. Und doch lassen sich menschliche Schwächen wie Verblendung, Gier und Hochmut, so, wie Blaumanis sie schildert, auch auf die Gegenwart übertragen. Das Trauma des Flüchtlings aus der Briefnovelle "Meine Flucht", in der die Konsequenzen der missglückten antizaristischen Revolution von 1905 beschrieben werden, wird sich kaum von dem eines Flüchtlings unterscheiden, der 2017 übers Mittelmeer kam.
    Abhängigkeiten und feudale Verhältnisse
    Um die deutschsprachigen Erzählungen von Rūdolfs Blaumanis gebührend zu würdigen, die jetzt im Aisthesis Verlag erschienen sind, sollte man sich dennoch die historische Situation vor Augen führen, in der Blaumanis schrieb. Der Schriftsteller, Journalist und Theaterautor wurde 1863 im russischen Gouvernement Livland auf einem Gutshof geboren. Seine Eltern verdingten sich als Koch und Dienstmädchen beim baltendeutschen Gutsbesitzer, der der Pate des Jungen wurde. Lettland existierte nicht. Bis zur Unabhängigkeitserklärung vergingen noch mehr als vierzig Jahre. Die Oberschicht bestand zum großen Teil aus einem deutschen Bürgertum, das vor allem in den Städten lebte. Auch Russen, Skandinavier und Polen prägten das Leben in einer mehrsprachigen Stadt wie Riga; Zeichen dafür, dass die baltischen Gebiete im Laufe ihrer Geschichte abwechselnd unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, Dänemarks, Schwedens, Polens und des russischen Zaren standen.
    Die lettische Bevölkerung lebte zumeist als einfache Bauern und Knechte auf dem Land. Blaumanis, der auf deutsche Schulen gegangen war, sprach lettisch und deutsch. Er arbeitete als Redakteur bei zwei großen lettischen Zeitungen und der deutschbaltischen Zeitschrift "Stadt und Land" und hatte den Vorteil, sowohl zur städtischen Kulturelite zu gehören, als auch mit dem Bauernleben vertraut zu sein. So konnte er die Bauern zum Gegenstand seiner Novellen machen, die von der deutschen Kulturelite gelesen wurden, und zugleich das kulturelle städtische Leben auf lettisch beschreiben, wodurch es den Letten zugänglich wurde. So wurde Blaumanis für Lettland zu dem, was Goethe und Schiller noch immer für die meisten Deutschen sind, zum Nationaldichter. Und in einem Land, das 1918 seine Unabhängigkeit erklärte, knapp zwanzig Jahre später aber von den Sowjets, den Nazis und erneut von den Sowjets besetzt wurde und erst 1990 seine Unabhängigkeit zurückerlangte, hat diese Rolle bis heute auch politische Relevanz.
    Um Abhängigkeiten geht es in den Erzählungen von Blaumanis immer wieder. Ob es die feudalen Verhältnisse sind, die trotz Aufhebung der Leibeigenschaft andauerten, die Beziehung zwischen Bauern und Gesinde, der wachsende ökonomischer Druck oder die sozialen Umbrüche auf den Dörfern, immer führt die Zwangssituation zu Korrumpierbarkeit. Solange die Menschen korrupt sind, ändern sich die Verhältnisse nicht, scheint Blaumanis zu sagen, der davon erzählt, dass nicht Armut und Abhängigkeit die eigentlichen Hindernisse für ein besseres Leben sind, sondern die Manipulierbarkeit der eigenen Gefühle. Der Autor scheint zu suggerieren, dass Unabhängigkeit und Freiheit eine Sache des Willens und aufrechten Denkens sind. Er selbst erlebte die Unabhängigkeitserklärung seines Landes nicht mehr. Er starb 1908, im Alter von 45 Jahren, an TBC in einem Sanatorium im heutigen Finnland.
    Ausgeliefert auf einer Eisscholle
    In seiner vielleicht berühmtesten Novelle "Der Schatten des Todes" von 1899 entwickelte Blaumanis das Modell einer zwar nicht demokratischen, aber gerechteren Gesellschaft. In der Novelle, die in Lettland Schulstoff ist, geht es um vierzehn Fischer, die hilflos auf einer Eisscholle im Meer treiben. Das Motiv von Männern in Extremsituationen, die einander und der Naturgewalt hilflos ausgeliefert sind, ist angesichts der Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer derzeit auch literarisch virulent. Das machte der soeben für den Deutschen Buchpreis nominierte und auf einer wahren Begebenheit beruhende Roman "Das Floss der Medusa" von Franzobel deutlich. Bei Blaumanis geht es allerdings nicht um einen Abgesang auf die Zivilisation.
    "Das ungeheure Eisfloß glitt weiter, das Meer rauschte und begann seine Ränder zu zerstören. Stück um Stück barst ab, schwamm mit und rieb sich an den Kanten des großen, auf dem sich die Fischer befanden. Plötzlich wurde ein schmaler, graugrüner Riss sichtbar, dehnte sich und wuchs und schied die beiden Zubuks, Stuhre und Skapann von den übrigen Gefährten. Von beiden Seiten erschallte Geschrei, die Leute winkten einander mit den Händen zu … Der alte Zubuk wollte ins Wasser springen, der Sohn jedoch hinderte ihn daran… Die Entfernung zwischen beiden Eisstücken wuchs geschwind, und schließlich war an ein Hinüberschwimmen von einemm zu anderen nicht mehr zu denken. ‚Mit denen ist’s aus‘, sagte Grünthal. Zur Mitte, mehr zur Mitte! Und lasst uns zusammenbleiben!‘ Schweigend gehorchten die Fischer."
    Blaumanis' Fischer etablieren im Angesicht des Todes zivilisatorische Grundwerte. Sie organisieren sich gegen den Tod, indem sie sich solidarisieren. Die Nahrung wird gerecht geteilt. Der geizige Verräter wird nicht von der Eisscholle ins Meer geworfen, sondern eingeschlossen ins Gebet. Und das Los, nicht die Macht des Stärkeren, entscheidet, wer in jenem Boot gerettet wird, das schließlich aufkreuzt, aber zu klein ist, um alle aufzunehmen. Die Herausgeber rücken diese Geschichte aufgrund ihrer Symbolik und Gleichnishaftigkeit in die Nähe der biblischen Geschichte von Jesus und seinen Jüngern. Angesichts heutiger Grausamkeiten im Überlebenskampf wirkt sie fast wie eine Utopie.
    Rūdolfs Blaumanis "Frost im Frühling"
    Die deutschsprachigen Erzählungen, Hrsg. Benedikts Kalnačs und Rolf Füllmann
    Aisthesis Verlag, 325 Seiten, 17,80 Euro