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Rückblick auf den Wahlkampf
Ringen um die Stimmen der Wähler

Monatelanger Wahlkampf kann aufregend, aber auch ermüdend sein. Alle Parteien versuchten, Positionen zu besetzen. Manch einem kamen dabei Ur-Themen abhanden oder stürzte in den Umfragen tief - ein Rückblick.

Von Paul Vorreiter | 24.09.2017
    Wahlkämpfer von SPD, CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen bereiten in Stuttgart Wahlkampfplakate ihrer Partei für das Aufhängen vor.
    Wer die Wahl hat, hat die Qual - und das sind längst nicht alle Parteien, für die man sich entscheiden kann (dpa / Sebastian Gollnow)
    "Mithin gültige Stimmen: 605. Mit ja haben gestimmt 605 Genossinnen und Genossen."
    Im März läuft es für SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz noch ganz gut. Gerade ist er mit maximaler Rückendeckung Parteichef geworden. Doch danach kommen viele Niederlagen. Verlorene Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen. Der SPD-Kandidat muss in die Offensive gehen. Sein Credo: Zeit für Gerechtigkeit. Dazu bessere Bildung und Abrüstung.
    "Während wir uns mit unseren Ideen der Debatte stellen, wird auf der anderen Seite geschwiegen. Ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie."
    Gelegenheit zur klaren Positionierung bietet das angespannte deutsch-türkische Verhältnis. Deutschland solle die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden, fordert Schulz im TV-Duell mit Merkel. Sie unterstellt ihm fehlendes Fingerspitzengefühl:
    "Herr Schulz. Sie haben erst mir dargelegt, ich sollte mich besser abstimmen in Europa. Ich glaube, nichts wäre schlimmer, als wenn wir sagen, wir wollen die EU-Beitrittsverhandlungen beenden und am Ende haben wir keine Mehrheit."
    Merkel gibt die besonnene Politikerin
    Die CDU-Spitzenkandidatin bleibt sich in diesem Wahlkampf treu: Sie gibt die besonnene Politikerin, die eine Politik auf Sicht führt. Aber Schulz will sich nicht beirren lassen, versucht sie etwa beim Thema Rente mit 70 festzunageln:
    "Deshalb sage ich hier ein ganz klares Nein: Finde ich toll, Frau Merkel. Aller Bonheur"
    Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte. Oder diejenigen, die drittstärkste Kraft werden oder bleiben wollen. Die Linkspartei legt ihren Wahlkampf als Oppositionsführerin darauf aus, zu zeigen, dass nicht alle in Deutschland gut und gerne leben - so wie es die CDU propagiert. Beim Wahlkampfabschluss der Linken in Berlin wirf Sahra Wagenknecht Kanzlerin Merkel vor, die Probleme armer Menschen zu ignorieren:
    "Die Frau hatte darauf hingewiesen. Sie lebt von 1.050 Euro netto im Monat. Also wenn sie mit ihren Ansprüchen nicht zufrieden ist, dann soll sie doch bitte einen Riestervertrag abschließen. Also ich finde das ist wirklich unglaublich gewesen. Das zeigt wie völlig abgehoben diese Art Politik ist."
    Grünen kam ein Ur-Thema abhanden
    Auch die Grünen kämpfen darum, in diesem Wahlkampf bemerkt zu werden. Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt will auf den letzten Metern alles aus ihrer Partei herausholen:
    "Deswegen werden wir in diesen letzten sieben Tagen noch mal alles reinschmeißen, was wir haben, weil es um die Richtungsentscheidung geht, am 24. September, um die dritte Kraft."
    So klingt das vergangenen Sonntag beim Wahlparteitag. Gründe, die eigene Partei noch mal wachzurütteln haben die Grünen. Noch bei der Bundesdelegiertenkonferenz im Juni wittert die Oppositionspartei wieder Morgenluft, die "Ehe für alle" wird zur Koalitionsbedingung ausgesprochen. Die wird allerdings überraschend zum Ende der Legislaturperiode beschlossen und damit stirbt ein Ur-Thema der Grünen. Eine neue Chance bietet im Sommer der Dieselskandal. Doch in den Umfragen wird die Forderung nach dem Ende des Verbrennungsmotors 2030 bislang nicht honoriert.
    CSU blickt ängstlich auf die AfD
    Ähnlich ängstlich zeigt sich inzwischen auch eine Partei, die sonst für ihr Selbstbewusstsein bekannt ist: Die CSU steht in Bayern zwar bei 47 Prozent in den Umfragen, doch auch hier ist die Furcht vor der AfD groß. Dabei hofft Parteichef Horst Seehofer bis zum Schluss, mit klaren Positionen die Partei rechts von der CSU klein halten zu können, etwa mit dem Festhalten an einer Flüchtlingsobergrenze. Bayerns Innenminister und CSU-Spitzenkandidat Joachim Herrmann fordert, dass der Familiennachzug von subsidiär Schutzbedürftigen dauerhaft ausgesetzt bleiben muss. In diesem Wahlkampf will er mit Expertise glänzen:
    "Ich bin jetzt seit zehn Jahren Innenminister in Bayern und ich glaube, wir können uns mit unserer Bilanz sehen lassen. Ich will gerne ein Stück weit, in welcher Funktion auch immer, von dieser Erfahrung und Kompetenz auf Bundesebene einbringen."
    FDP musste sich neu erfinden
    Den Sprung aus dem Land in den Bund plant auch Christian Lindner. Damit das funktioniert muss der FDP-Chef seine Partei von Grund auf neu aufstellen:
    "Manchmal muss dich jemand zwingen neu anzufangen, weil du dann neu denken musst."
    Christian Lindner verspricht, die Digitalisierung voranzutreiben und er zeigt auch außenpolitische Ambitionen, fordert einen anderen Umgang mit Russland. Die Situation auf der Krim sollte als ein dauerhaftes Provisorium angesehen werden. Lindner verspricht, eine grunderneuerte FDP als Partei der Mitte in den Bundestag zu bringen. Den Sogkräften von rechts kann er manchmal nicht widerstehen: Es gebe kein Menschenrecht, sich seinen Standort auf der Welt selbst auszusuchen, sagt Lindner.
    AfD setzt auf Provokation
    Das sieht wohl auch die AfD so. Auf Großleinwänden wirbt sie in großen Buchstaben mit "Asylbetrug beenden". Sie wirbelt den Wahlkampf immer wieder mit diesem Thema auf und auch mit Seitenhieben auf die - wie sie sie nennt - Altparteien. Daran glauben muss unter anderem die türkischstämmige SPD-Politikerin Aydan Özoguz:
    "Ladet sie mal ins Eichsfeld ein und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her und wir werden Sie danach, Gott sei dank, in Anatolien entsorgen können."
    Für diese Äußerung wird AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland heftig kritisiert. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller greift das beim Wahlkampfabschluss auf dem Gendarmenmarkt auf.
    "Die Sprüche machen deutlich, wofür Gauland oder dieser Björn oder Bernd Höcke stehen, es ist mir schnuppe - ich will Höcke und Gauland nicht im Bundestag sehen."
    Applaus für Berlins Regierenden Bürgermeister, Michael Müller. Aber würde es von den Bürgern auch Applaus für den Wahlkampf geben? Wie fanden sie ihn?
    - "Eigentlich unterirdisch, weil die AfD so stark geworden ist."
    - "Langweilig in dem Sinne, weil die Parteien ihre Versprechen nicht einhalten."
    - "Ja, alle sagen, dass der so lau war. Er ist lau, ich glaube, da ist was dran, dass die Leute wählen gerne die Gewinner. Und wenn ich den Eindruck habe, die Partei gehört nicht zu den Gewinnern, dann wähle ich lieber die anderen."
    Wer die Gewinner sind und die anderen: Das wird in wenigen Stunden klar sein.