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Rückblick und Ausblick
Saisonschluss (2/3)

Arbeitsplätze, Algorithmen und Alternativen: Mit dem Wissen über die Probleme wächst die Furchtsamkeit der Politik. Braucht die Welt einen neuen, furchtloseren Politikertyp? Teil zwei des essayistischen Jahresrückblicks von Mathias Greffrath.

Von Mathias Greffrath | 15.12.2019
Die orange illuminierte Reichstagskuppel bei Abenddämmerung.
Brauchen wir neue Institutionen und einen neuen Politikertyp? (picture alliance / Bildagentur-online)
Die Erkenntnisse der Wissenschaft und der Unmut der Jungen drängen auf radikalen Wandel. Die "Aufgabe jeder Regierung ist es, möglichst alle Menschen mitzunehmen", wiegeln die Klimakanzlerin und um Frieden besorgte Soziologen ab. Aber wie sähe eine Politik aus, die nicht mehr an kleinen Rädern dreht, sondern den notwendigen Systemwandel organisiert? Mit welchen Instrumenten und Institutionen könnte sie arbeiten?
Mathias Greffrath, Jahrgang 1945, ist Soziologe und Journalist. Er lebt in Berlin, arbeitet unter anderem für die "taz", die "ZEIT" und den Rundfunk. In den letzten Jahren hat er sich in Essays, Hörspielen und Kommentaren mit den sozialen und kulturellen Auswirkungen von Globalisierung und Klimawandel beschäftigt.
(Teil 3 am 22.12.2019)

Das Jahr, in dem das Klima zum Alltagsgespräch wurde, endete mit einer weiteren Klimakonferenz. Die Ergebnisse von Madrid reichen nicht aus, um die Erderwärmung unter die vereinbarten zwei Grad zu drücken. Neue Konfliktlinien tun sich auf, weil die Industrieländer sich im Verschmutzungshandel von ihren Verpflichtungen freikaufen könnten: in Brasilien und Afrika Bäume pflanzen und dafür in Europa weiter Kohle und Öl verbrennen.
Radikalisierung oder Engagement
Die soziale Bewegung, vor allem der jungen Generationen, wird nicht so schnell verebben, aber – so sagte es Olaf Bandt, der neue Chef der Umweltorganisation BUND, in Madrid – sie wird sich verändern. "Manche werden sich radikalisieren, andere werden sich dort engagieren, wo sich Klimapolitik umsetzen läßt, etwa in den Kommunen."
Und was wäre, wenn die Klimakonferenzen vergeblich tagten, wenn die Weltgesellschaft es nicht schaffte, den Klimawandel auszubremsen? Wenn man sich darauf einstellte, dass die schlimmen Zukunftsprojektionen Wirklichkeit werden: Dürre, Überschwemmung, Wassernot, Hunger, Kollaps von Gesellschaften, blutige Verteilungskämpfe, Revolten gegen die Reichen, die sich retten, Unterdrückung der Unteren?
Der amerikanische Autor und Aktivist Jonathan Franzen rechnet mit diesem Desaster, in einem dramatischen Essay, im Herbst, im "New Yorker". Aber Franzens Resignation endete mit einem Arbeitsauftrag. Er schreibt:
"In Zeiten zunehmenden Chaos werden die Menschen Schutz durch Tribalismus und Streitkräfte suchen und nicht durch Rechtsstaatlichkeit. Unsere beste Verteidigung gegen diese Art von Dystopie besteht darin, funktionierende Demokratien, funktionierende Rechtssysteme (…) zu erhalten."
Bekämpfung extremer Vermögensunterschiede
Das klingt defensiv. Aber Jonathan Franzen zielt auf eine Art der Verteidigung, die viel umfassender und viel anspruchsvoller ist als all die technischen CO2‑Reduktionspläne.
"Jede Bewegung in Richtung einer gerechteren und zivilgesellschaftlicheren Gesellschaft " – so schreibt er – "muss als sinnvolle Klimamaßnahme angesehen werden. Die Bekämpfung extremer Vermögensunterschiede ist eine Klimaschutzmaßnahme. Die Abschaltung der Hassmaschinen in sozialen Medien ist eine Klimaschutzmaßnahme. Eine humane Einwanderungspolitik, eine freie und unabhängige Presse zu unterstützen, das Land von Angriffswaffen zu befreien - das alles sind sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen. Um die steigenden Temperaturen zu überstehen, muss jedes System so stark und gesund sein, wie wir es schaffen können."
Unter Demokratie versteht Franzen mehr als nur ein Werkzeug zur Dämpfung des Desasters. Sein Aufruf will mehr: Denn eine Menschheit, die in einer ruinierten Umwelt nur noch die physische Existenz sichert – eine solche Menschheit hätte zwar überlebt, aber 2.000 Jahre Freiheitsfortschritt und Kultur wären durchgestrichen.
Mehr Demokratie wagen
Demokratie bewahren, gut. Mehr Demokratie wagen – besser. Und notwendig. Denn nicht nur die Wahlen dieses Jahres haben gezeigt, dass sich auch in unserem Land immer weniger Bürger von den beiden klassischen demokratischen Volksparteien vertreten fühlen. Nicht vertreten, nicht beschützt, nicht gut bedient.
Zur Illustration nur ein paar Wörter aus der Leitartikel-Kollektion 2019:
Pflegenotstand, Nitratnotstand, Mietnotstand, Schulnotstand, Waldnotstand, Kitanotstand, Polizeinotstand, Bildungs- und Sicherheitsnotstand, Rentennotstand, Lehrernotstand, Anlagenotstand, Kulturnotstand, Digitalnotstand, Infrastrukturnotstand, und natürlich: Flüchtlingsnotstand.
Viel davon ist Medienhysterie, aber es klafft eine politische Lücke zwischen absehbaren großen Herausforderungen und einer ganzen Kaskade von kleinen und kleinsten Korrekturen im sozialen System, für die man wirklich keine große Koalition gebraucht hätte. Und das gilt beileibe nicht nur beim Klima.
Pflaster auf klaffende Wunden
Der Abgeordnete, den ich Ende des Jahres besuche, ist einer von den stillen, nachdenklichen, ein gewerkschaftsfreundlicher Wertkonservativer. Warum, so frage ich ihn, zeigt das Parlament so wenig Neigung, große, strukturelle Reformen anzugehen? "Wir kleben Pflaster auf klaffende Wunden", sagt der Abgeordnete. "Wir sind ja eigentlich alles Gutmenschen hier", sagt er, es klingt melancholisch, "aber die Neigung, die Ergebnisse der Wissenschaft nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist groß." Woran das liege? Die Lobbies? Er winkt ab. Das sei nicht das größte Problem.
"Sie kennen doch die Geschichte vom Frosch im sich langsam erwärmenden Wasser. Der bleibt sitzen, bis er platzt. Die Veränderungen sind nicht dramatisch genug, als dass wir uns zu radikalen Änderungen genötigt fühlen. Das ist das eine. Und das andere: Hier sind zweieinhalb Parteien im Parlament, die immer noch in der Gedankenwelt der alten Industriegesellschaft stecken." In der Welt des Klassenkompromisses, auch Soziale Marktwirtschaft genannt, in der ein konstantes Wachstum dafür sorgte, dass alle Zuwächse hatten.
Das Band moderner Gesellschaften: Kooperation
Die Arbeitsgesellschaft – sie war die reale Basis für den Aufstieg der Demokratiebewegungen in Europa. Arbeit begründet Rechte, das war die Parole der selbstbewussten Bürger gewesen, die 1789 das Pariser Parlament besetzten und die Steuerhoheit, und damit die Macht im Staat, reklamierten. Und im 19. Jahrhundert erklärte der Soziologe Émile Durkheim: Das innere Band moderner Gesellschaften ist nicht die Sprache, nicht die Herkunft, nicht einmal die Religion, geteilte Werte oder gemeinsame Geschichte. Das reale Band ist die Kooperation. Er nannte das "organische Solidarität".
Und deshalb hieß die Moral der Arbeitsgesellschaft – der bürgerlichen wie der sozialistischen: "An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, sind alle berechtigt (...) Eigentum, Verbrauch und Anspruch (sind) nicht Privatsache." Für den bürgerlichen Industriellen und liberalen Politiker Walther Rathenau folgte aus diesem Arbeits-Ethos der "unsichtbaren Verkettung" der Arbeitenden die Forderung, die "verdienstlosen Massenerben" zu enteignen. Die "Erblichkeit der Kapitalmacht" – so schrieb er 1917 – müsse gebrochen werden zugunsten des öffentlichen Reichtums an Schulen, Kultureinrichtungen – und sozialen Ausgleichsmechanismen, denn "nur auf der Grundlage ähnlicher Lebensumstände" könne Demokratie existieren.
Vollbeschäftigung, Umverteilung, Bildung
Wer von Demokratie redet, ohne über dieses gemeinsame Eigentum reden zu wollen, der meint es nicht ernst. Denn Demokratie setzt Sicherheit voraus. Wer Angst um sein Auskommen, seine Gesundheit, sein Alter haben muss, wer nicht durch Bildung in die Lage versetzt wird, urteilsfähig zu sein – der mag Bewohner eines Landes sein, aber er ist, im starken Sinne des Wortes, noch kein Bürger. Das sozialdemokratische Jahrhundert hat an der Herstellung einer solchen bürgerlichen Sicherheit gearbeitet – durch Vollbeschäftigung, durch Umverteilung, und, was noch wichtiger ist, durch Bildung. Und auf dem Gipfel dieser Geschichte haben wir Deutschen sogar – als milde Erben des radikalen Bürger-Industriellen Rathenau – den Satz, dass Eigentum verpflichtet, in unsere Verfassung geschrieben.
Dann sanken seit Beginn der Siebziger Jahre peu à peu die Wachstumsraten; mit der Einführung automatisierter Produktionsverfahren spaltete sich die traditionelle Facharbeiterschaft in Hochqualifizierte und Hilfskräfte.
"Wissensgesellschaft", schrieben die Ideologen: Die Bedeutung von Arbeit nehme ab, die von Wissen nehme zu. Damit wurden die neuen Ungleichheiten legitimiert. Und der Aufstieg der Medien- und Unterhaltungsindustrien – über dessen nivellierende und verblödende Folgen sich alle Entscheider zynisch klar waren – wurde mit Theoremen über die Freizeit-, die Informations-, die Ego-Gesellschaft überwölbt.
Konsequente Ersetzung menschlicher Arbeit
Seit 50 Jahren überwuchert die Kapitalzone ehedem nicht kapitalgetriebene Sphären der Daseinsvorsorge: Gesundheit, Pflege, Bildung, Kultur, Kommunikation; und diese "Landnahme" ist in den letzten zwei Jahrzehnten mit Internet, Computer, Informationstechnologie und Künstlicher Intelligenz rasant beschleunigt worden. "Business at the speed of thought" – Verkaufen in Lichtgeschwindigkeit, so nannte Bill Gates in den Neunziger Jahren das Ziel dieser Entwicklung. Seine Visionen eines vollautomatisierten Heims, die Welt von Siri und Alexa, und unendlichem Spaß dazu brauchten nur zwei Jahrzehnte und das Smartphone, um von einer bizarr anmutenden Fantasie zur umfassenden Wirklichkeit zu werden. Die Welt, so schrieb es George Orwell, wird immer sicherer für kleine dicke Männer – es kostet nur immer mehr Strom.
Aber die Heimat von Alexa ist nur das Nebenprodukt der anderen, der tieferen Automatisierungswelle. Industrie 4.0 und das Internet der Dinge sind die konsequente Fortsetzung der neuzeitlichen Tendenz zur Ersetzung von menschlicher Arbeit.
Die Grundlage unseres Wohlstands schrumpft
Die Furcht vor einer neuen Welle der Arbeitslosigkeit breitet sich aus. Aktuelle Prognosen von Sozialwissenschaftlern sprechen von 30, 40, 50 Prozent der Berufe, die verschwinden könnten. Die Grundlage unseres Wohlstands, die Exportindustrien, schrumpft. Daimler will in nächster Zeit 8.000 Stellen abbauen, Audi 10.000, und weiter: Siemens 2.700, RWE 2.700, Volkswagen 23.000 , BASF 3.000 Deutsche Bank 9.000, Bayer 4.500, im Bankensektor fielen im Jahr 2018 32.000 Stellen weg, im Jahr 2019 könnten es 60.000 sein, die Prognosen für dem Umstieg von Diesel- auf Elektromobilität schwanken zwischen 120.000 und 160.000. Allmählich versagt die Fantasie, wenn man sich vorstellen will, als was diese Menschen arbeiten sollen in Zukunft: Noch mehr Dienstleistungen, noch mehr Kompensation der Modernisierungsfolgen, noch mehr Inkasso-Unternehmen? Noch mehr Polizei?
Aber die Digitalisierung greift weit über die bloße Beschleunigung der Automatisierung hinaus. Die Chiffre markiert den Übergang in einen völlig neuen Typus von Gesellschaft.
Amazon stellt nichts her, Amazon kassiert Prozente
In seinem Buch "Digitaler Kapitalismus", das in diesem Oktober erschien, skizziert der Berliner Soziologe Philipp Staab den Fluchtpunkt einer nur von Profitinteressen getriebenen Digitalisierung: Ihre Machthaber sind die Eigentümer der Internet‑Plattformen. Ihre horrenden Gewinne werden nicht länger auf einem Markt gemacht, sondern sie resultieren aus dem Eigentum am Markt. Amazon stellt nichts her, Amazon ist der Markt und kassiert Prozente: für die Logistik, und – immer mehr – für die Vermittlung der Produkte von zehntausenden von Unternehmen und der unterbezahlten Arbeit von hundertausenden von Crowd-Arbeitern, die ganz offiziell "mechanische Türken" genannt werden.
Die Clowd von Amazon verwaltet und verarbeitet die Daten von hunderttausenden von Unternehmen in 190 Ländern, darunter Netflix, Airbnb, General Electric, Vodafone, NASA und US Navy und mehr als 80 Prozent der Dax‑Unternehmen. Privateigentum sind zunehmend auch die Unterseekabel, durch die die Informationsströme der Weltwirtschaft, der Wissenschaft, der Politik schießen, tausende von Satelliten privater Telekommunikationskonzerne sichern die Versorgung mit Wasser und Wärme, mit Strom und Straßenverkehrsmeldungen. Und gerade wird die Internet-Domain .org privatisiert, die bislang für gemeinnützige Organisationen da war. Wer redet hier noch von Souveränität? Wer meint, er könne hier noch etwas national regeln?
Das abstrakte Aneignungs-Netzwerk der Finanzwelt
Das Tempo und die Ungleichzeitigkeiten lähmen das politische Bewusstsein: Während wir noch über Alexa, die Smartphone-Sucht der Enkel, den elektronischen Finderabdruck und fahrerlose Autos sprechen, entsteht mit rasender Geschwindigkeit im Untergrund eine weltweit ausgreifende elektronische Variante der alten mittelalterlichen Markthoheit, bei der die Städte Gebühren kassierten für das Recht, zu verkaufen. Egal, was produziert wird: Stahl, Brötchen, Hotelbetten, Flugzeuge, Klimaanlagen, Schrauben oder Schokolade – der Turbo-Feudalismus liegt über der Arbeitsgesellschaft. Und verwoben mit ihm ist das andere, das abstrakte Aneignungs-Netzwerk der Finanzwelt, in dem Billionen, nach Anlage suchend, die Immobilien, die Ländereien, die Rohstofflager und die Traumfabriken der Welt in Besitz nehmen.
Feudal sind auch die Vermögen, die sich durch diese Landnahme gebildet haben. Feudal die Exit-Strategien der neuen Feudalen. Ganz als fürchteten sie den finalen Crash, kaufen sie Ländereien in Patagonien und Neuseeland, Fluchtschiffe und Inseln. Und die Fürsten dieser neuen Reiche, deren Kinder auf Waldorfschulen gehen und ihre Handys erst mit 14 kriegen, werden von den Präsidenten und Kanzlern der alten Nationalstaaten so empfangen, wie es ihnen gebührt.
Zwischen Rettung und Zerstörung
"Unsere gemeinsame digitale Zukunft" – so heisst das dicke Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung, das in diesem Sommer an die Abgeordneten verschickt wurde. 600 dichte Seiten, und wieder einmal ein später politischer Weckruf, immer noch getragen von der Hoffnung auf Gestaltung:
Digitalisierung kann den Verbrauch von Ressourcen nachhaltiger machen, den Zugang zu medizinischen Leistungen erleichtern, die Produktivität erhöhen und damit eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit ermöglichen, sie kann die Fähigkeit der Staaten zur demokratischen Verwaltung und gerechten Besteuerung steigern. Aber sie kann – das wäre die dystopische Variante – die Privatsphäre durchsetzen, den Konsum in zerstörerische Höhen treiben, die Finanzspekulation beschleunigen, zum Brandbeschleuniger des ökologischen Desasters werden, das Risiko von Katastrophen erhöhen.
Netze als Eigentum reklamieren
Eine demokratische Gesellschaft zu bewahren, in der die Souveränität der Bürger über ihr Leben und ihre Institutionen gesichert ist – gegen den drohenden Totalitarismus weltumspannender und zu unendlichem Wachstum treibender Wirtschaftsmächte: Das erfordert zunächst ein Umdenken:
Wir müssen beginnen, diese Netze als unser Eigentum zu reklamieren. Und wir müssen beginnen, unsere Rechte als Eigentümer auszuüben. Denn, was da geschah, geschieht und weiterhin zu geschehen droht, ist im Kern eine ungehörige Enteignung. Die Aneignung der geistigen und materiellen Früchte unserer Geschichte, die Inbesitznahme unseres kollektiven Erbes durch Einzelne.
Denn was sind Algorithmen anders als das von Generationen unserer Vorfahren erarbeitete praktische und theoretische Wissen von Bauern, Handwerkern, Ingenieuren, Wissenschaftlern – geteiltes und tradiertes Wissen, das nun, in digitale Handlungssysteme verwandelt, als "geistiges Eigentum" zum Privateigentum wird. So wie zu Beginn des neuzeitlichen Kapitalismus die Wälder, die Weiden und Wege, die als Gemeinbesitz von allen genutzt wurden, von den Grundeigentümern eingezäunt und privatisiert wurden, zieht das informationstechnologische Kapital heute Copyright-Zäune um den Gemeinbesitz an Produktionswissen und Erkenntnissen und beherrscht die Straßen und Wege der Verbreitung und nimmt Wegegeld für unser historisches Erbe.
Algorithmen machen Produktion schneller und billiger
Die ungeheuren Renditen von Microsoft, Amazon, Google und Facebook entstehen ja nicht dadurch, dass sie der Welt eine neue Dimension hinzufügen. Ihre Algorithmen, ihre Soft- und Hardware machen das bestehende System von Produktion, Zirkulation und Kommunikation allerdings schneller und billiger. Die Produktions-Software steigert die Produktivität, das Internet beschleunigt den Umschlag der Waren und des Wissens – das führt zu einer Ausweitung der Genüsse ebenso wie zu neuen Formen der Ausbeutung wie der "crowd work", in der isolierte Individuen an ihren Rechnern Teile von Teilen von Teilarbeiten erledigen und unterschreiben müssen, dass sie nicht untereinander kommunizieren. So wird noch die Kooperation, die erste Produktivkraft, zum Eigentum der Plattform-Fürsten. Den getrennt voneinander Kooperierenden kann keine Gewerkschaft helfen, sie sind so schutzlos wie die Tagelöhner des 18. Jahrhunderts.
Sie sollen, so schlagen es liberale Ökonomen, wohlmeinende technologische Utopisten und Arbeitslose gleichermaßen vor, ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommen. Ein 'Existenzgeld' soll die Würde der Überflüssigen sichern.
Es wäre die Würde der Almosenempfänger.
Zeitwohlstand statt Produktivitätsgewinn
Über die Alternative wird nicht mehr geredet. Auch die Gewerkschaften haben die große Idee preisgegeben, die ein Jahrhundert lang die Arbeiterbewegung beseelt hat: dass Produktivitätsgewinne irgendwann nicht im erweitertem Konsum, sondern in Zeitwohlstand ausgezahlt würden.
Schon in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hielt der große Ökonom John Maynard Keynes eine Wochenarbeitszeit von 15 Stunden in historischer Sichtweite. Er rechnete allerdings nicht mit einer Welt, in der die 8-Tage-Reisen in die Emirate für 399 Euro angeboten werden, die Nackensteaks für 4,82 im Kilo, in der Textilien in Läden verkauft werden, die "Jeden Tag was Neues" heißen. Eine Welt, in der Menschen sich halbtot prügeln, wenn ein neues iPhone Vernissage hat; in der sich die Kleinsten zu Weihnachten einen 1,23 m langen Lamborghini Aventador wünschen, das – Katalogtext - "perfekte Elektroauto mit futuristischem Look und nach oben öffnender Tür".
Eine Zivilisation, die so etwas braucht, die braucht freilich Wachstum und die Verewigung der 40- oder mehr-Stundenwoche.
30 Millionen Beschäftigte, 15 Millionen Ausgehaltene
Was wäre denn auch die Alternative? Die Schätzungen über die Arbeitsplätze, die im Prozess 4.0 nicht mehr gebraucht werden, schwanken zwischen 9 und 50 Prozent. Nehmen wir als Gedankenexperiment einen Mittelwert von 30 Prozent an, dann hieße das bei gleichbleibendem Steigen der Produktivität: Die Gesellschaft der Arbeitnehmer würde sich noch einmal spalten: in 30 Millionen Beschäftigte und 15 Millionen Ausgehaltene. Man könnte aber auch, im Laufe von zehn Jahren, die Regelarbeitszeit um 30 Prozent senken, von 39 auf 26 Stunden in der Woche, das wäre dann eine Viertagewoche oder ein Fünfstundentag.
Das ergäbe eine Gesellschaft mit Vollbeschäftigung und viel Freizeit. Damit sie möglich wäre, brauchte es freilich ein Bildungssystem – Schule und Betrieb – dessen durchschnittliche Absolventen für mehr als Lieferandofahren oder Kassenbedienen ausgebildet wären, für gute, befriedigende und anspruchsvolle Arbeit. Das andere könnten die Maschinen erledigen, dafür wurden sie ja erfunden.
Die Frage nach dem Eigentum
2019 war ein Jahr, in dem – auf sehr verschiedene Weise, in verschiedenen Arenen, die Frage nach dem Eigentum nicht mehr nur noch an den Rändern der Öffentlichen Debatten auftauchte.
Im Januar begannen in Berlin Aktivisten, Unterschriften zu sammeln für eine Volksabstimmung über die Beschränkung des Eigentums großer Kapitalgesellschaften an Wohnblöcken; die Meinungsumfragen signalisierten die Sympathie der Hälfte der Bevölkerung, und so kamen bis Ende Mai ausreichend Unterschriften zusammen – seit fünf Monaten prüft nun der Berliner Senat die Rechtmäßigkeit eines solchen Angriffs auf das Privateigentum – Sabotage durch Verfahren.
Im Mai eröffnete die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager in Brüssel ein weiteres Verfahren gegen Apple. Diesmal nicht wegen Unterschlagung gerechtfertigter Steuerzahlungen an Irland – es handelte sich immerhin um 13 Milliarden – , sondern wegen des Missbrauchs seines Monopols, aufgrund dessen Apple 30 Prozent von jeder App kassiert, die aus seiner Plattform heruntergeladen wird.
Kühnerts Vorschlag vom Kollektivismus
Und ebenfalls im Mai wies der Sozialdemokrat Kevin Kühnert in einem Interview – ganz grundgesetzkonform – auf die gesellschaftliche Verantwortung von großen Unternehmen hin und auf die durchaus in der Verfassung vorgesehene Möglichkeit, sie in kollektives Eigentum, in Genossenschaften oder Stiftungen zu überführen, um sie vom Wachstumsdruck zu entlasten oder um diejenigen zu beteiligen, deren kollektive Arbeit den Reichtum schafft.
Drei Ebenen – die kommunale, die betriebliche und die europäische – auf denen – wenn auch noch zaghaft – eine Diskussion zu beginnen scheint über die Verpflichtung von Unternehmen auf das Gemeinwohl, über die gestaltende Rolle des Staates, über die Beteiligung der Arbeitenden am Reichtum, den sie schaffen, über gesellschaftliches Eigentum.
Während der heroische Kampf der EU-Kommissarin gegen die US-basierten Giganten Google, Amazon und Apple weitgehend im Schatten der Öffentlichkeit stattfand, brach ein publizistischer Sturm über den Juso-Vorsitzenden los, der nicht einmal von "Enteignung" gesprochen hatte, sondern nur von Gemeinwohlverpflichtung. Da war kein Halten mehr: Irrer Vorstoß, schrieb "Bild", und "Wieviel DDR steckt in der SPD?"; die "Welt" sprach vom "altsozialistischen Resteverwerter und jungsozialistischen Schwarmgeist"; das "Handelsblatt" fürchtete, Kühnert wolle "die gesamte deutsche Industrie und die Gesellschaft kollektivieren", Minister Scheuer erblickte einen "verirrten Fantasten", und Christian Lindner wollte gleich das Grundgesetz ändern, um solchen Spuk im Keim unmöglich zu machen.
"Jenseits des Wachstums"
Offensichtlich fühlen sich die Nutznießer und Laudatoren kapitalistischer Eigentumsverhältnisse nicht mehr ganz so stabil wie noch vor kurzem – und die transnationalen Konzentrationswellen schärfen das Realitätsbewusstsein auch mancher konservativer Mittelständler. Aber Kritik ist unfruchtbar, wenn sie keine Alternativen nennen kann. Wir brauchen, so liest man oft, eine neue große Erzählung. Die alte handelte vom Fortschritt der Freiheit und vom Wachstum des Wohlstands.
"Jenseits des Wachstums" – so lautete im September der Titel einer Konferenz der OECD, des Zusammenschlusses der reichsten Demokratien der Welt. Und die Forderungen: Nichts weniger als eine Wende der Wirtschaftswissenschaft und der Wirtschaftspolitik. Eine Bewertung des Wohlstands nicht nur durch das Bruttosozialprodukt, das nur die wachsende Kapitalmenge misst, aber weder Gesundheit, Nachhaltigkeit, Bildung, Zufriedenheit. Eine Ausrichtung der Wirtschaft an den ökologischen Grenzen der Belastung des Planeten. Eine aktive Rolle des Staates in der Industriepolitik, dem Bankwesen, den öffentlichen Investitionen. Und weiter: eine Beschränkung der Rechte von Aktionären, eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Unternehmensausrichtung. Digitale Plattformen müssten öffentlich-rechtlich, das Aktienrecht vom alleinigen Zwang zur Profitabilität befreit werden. Dazu Vermögenssteuern und ein anderes Bodenrecht. Auf den Arbeitsmärkten: Verkürzung der Regelarbeitszeit, ein Grundeinkommen und durch soziale Rechte gesicherte Grundversorgung mit Bildung und Gesundheit. Insgesamt, so die OECD-Wissenschaftler, müsse der Staat in einer Zeit nachlassenden Wachstums wieder zum starken Akteur werden.
Einzelne Menschen können sehr viel bewirken
Das Konferenzpapier ist ein ganzer Werkzeugkasten für eine erneuerte Moderne und einen "Zukunftsstaat". Am Ende von vielen Spiegelstrichen, die eine ganz brauchbare Roadmap für den Weg in ein sozialökologisches, demokratisches Europa abgeben würden, steht in diesem Text der lakonische Satz:
"No one thinks this would be easy."
Nein, einfach wird das sicher nicht sein. Und Demonstrationen werden auch nicht reichen. Aber bei wirklich großen Transformationen gibt es nicht einen Weg, einen Hebel, eine Parole. Wenn die Art, Unternehmen zu betreiben, soziale Sicherheit zu organisieren, die Art zu arbeiten und zu essen, die Art, unsere Alten würdig durch die letzten Lebensphasen zu begleiten, das Leben in Städten zu gestalten und den Welthandel mit den ehemaligen Kolonien gerechter zu betreiben – wenn sich alles gleichzeitig verändern muss, dann gibt es nicht einen Hebel. Ein gesellschaftlicher Quantensprung – das hat der unermüdliche Harald Welzer in diesem Jahr in seinem Buch "Alles könnte anders sein" plausibel gemacht, beruht eben auf der Veränderung von kleinen und kleinsten Einheiten unseres Verhaltens, unseres Wählens und Auswählens. In labilen Zeiten des Umbruchs können dann einzelne Menschen sehr viel bewirken.
Mangel an Anführungspersönlichkeiten
Die deutsche Zivilgesellschaft ist heute durchsetzt von Hunderten von Bürgerinitiativen, sie prägen den Alltag dieser Republik, das Land ist reich an innovativen Energieingenieuren, erfolgreichen Ökobauern, Bildungsreformern – aber es herrscht zur Zeit – noch? - ein Mangel an Politikern, an Anführungspersönlichkeiten, die diese Aktivitäten und diese Ziele dort zum Ausdruck bringen, wo Gesetze gemacht werden.
Neulich traf ich einen Wissenschaftler im Regierungsdienst. Ich fragte ihn, ob wir neue Institutionen brauchen, damit das, was viele wissen, zu Wollen wird, und das Wollen zu Politik. Er sagte: Nein. Was denn dann fehle? Er überlegte kurz, dann sagte er: Mut.
Und an dieser Stelle muss dann doch noch einmal von Greta Thunberg die Rede sein. Nein, nicht noch einmal von dieser krassen Rede vor den Vereinten Nationen. Sondern von dem Ritual, das diese säkulare Prophetin gestiftet hat: vom Freitag.
Eine Stunde darüber reden, was schief läuft
Stellen Sie sich also bitte jetzt, am Ende dieser halben Stunde nur eine Minute lang vor: Jeden Freitag nachmittag, oder auch nur in der letzten Stunde: im Unterricht, im Betrieb, in den Büros von Abgeordneten, Stadtplanern, Krankenhausstationen, Pflegeheimen, in den dazu gehörigen Bürokratien, den Zentralen und Stationen von Bahn und Telekom und Post, in den Kindertagesstätten und den Montagehallen … würde eine Stunde lang darüber geredet, was schief läuft, werden Ideen ventiliert, wie man sich Abhilfe, Verbesserung, Veränderung vorstellen kann, in der eigenen Arbeit, im Betrieb, in der Stadt, im Land. In jedem Mietshaus, jeder Stadtbibliothek, jedem Fuhrhof, jedem Schlachthof, jeder Filiale von Lidl, Aldi, Rewe, in den Shopping-Malls, wo Billigklamotten, elektronischer Schnickschnack oder überteuerter Luxustand verkauft werden, in den Theatern und Museen, den Polizeirevieren und den Büros des BND, in den Ministerien und Forschungslaboren der Pharmachemie, den Konstruktionsbüros von Motoren aller Art, den Planungsbüros von Airbus, Siemens, Bahn, den Universitätsseminaren, Max-Planck-Instituten und den Lehrerzimmern der Grundschulen in Problembezirken … würden nur eine Stunde lang die Mitarbeiter, die Mieter, die Verwalter, die Lehrenden, die Kinder darüber reden, wo man eigentlich hinwill, mit der ganzen Arbeit, der ganzen Mühe, wo der Frust herkommt, was getan werden könnte, über das, was man gleich ändern könnte, über das, was man sich vorstellen kann, auch wenn man es sich gerade nicht vorstellen kann, über die Delegation von Aufträgen an unsere Repräsentanten – und meinetwegen auch, wie man sich dabei gerade fühlt…eine Stunde lang: Gesellschaft.
Ein Ritual für die Demokratie
Die Minute ist vorbei. Und die Anschlussfrage lautet: Ist das naiv, sich so etwas vorzustellen, so ein kleines, rituelles, analoges, Menschen verbindendes Ritual? Ein wenig mehr Gesellschaft? Ist das utopisch? Könnte das interessant, gar vergnüglich sein, so ein basisdemokratisches Palaver? Könnte das Menschen zu Verabredungen veranlassen? Könnte das unsere Politiker ermutigen? Würden Sie bei so etwas mitmachen? Würden Sie sich unfrei dabei fühlen? Oder könnten sich daraus Konsequenzen für unsere Demokratie ergeben?
Bei Google machen sie das nämlich schon lange.