Freitag, 29. März 2024

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Rückwärtsgewandt statt visionär

Für seine Biographie wählt der amerikanische Historiker Jonathan Sperber einen ungewöhnlichen Ansatz: Er befreit Karl Marx vom Ballast des 20. Jahrhunderts und beschreibt ihn als Revolutionär, der sich vor allem von der Vergangenheit leiten ließ.

Von Peter Kapern | 18.03.2013
    Anfang 1879 klopft ein britischer Diplomat an der Tür der Familie Marx in der Maitland Park Road im Londoner Norden. Sein Name: Sir Mountstuart Elphinstone Grant Duff. Sein Auftrag: Er soll für die preußische Kronprinzessin auskundschaften, was für ein Mann dieser legendäre Marx mit der grauen Mähne und dem wilden Vollbart ist. Die Revolution von 1848/49 liegt da schon drei Jahrzehnte zurück, die Pariser Kommune von 1871 ist lange niederkartätscht, und auch die Internationale Arbeiter Assoziation existiert nicht mehr. Immer war Marx dabei gewesen – physisch oder intellektuell. Und noch immer geht für Europas Herrscher von dem älteren Herrn, der zwischen seinen Bücherbergen lebt, ein Grusel aus. Und das bleibt auch so, nachdem Grant Duff dem preußischen Hof Bericht erstattet hat. Obwohl der Eindruck, den er gewonnen habe, wie er schreibt,

    "eher angenehm (war) und keineswegs der eines Herrn, der kleine Kinder in ihren Wiegen zu fressen pflegt."

    Vier Jahre später, am 14. März 1883, stirbt Karl Marx. Alle bisher erschienenen Marx-Biographien greifen weit über das Datum seines Todes hinaus. Statt ihn im Kontext seiner Zeit zu deuten, versuchen sie, ihn als – je nach Standpunkt – fatalen Urheber oder hellsichtigen Propheten von Ereignissen des 20. Jahrhunderts zu konstruieren. Jonathan Sperber sieht die Neigung vieler Marx-Biographen, ihn als Zeitgenossen zu sehen, kritisch und wählt eine andere Perspektive:

    "Ich würde Marx nicht als unseren Zeitgenossen betrachten, sondern als eine Gestalt einer vergangenen historischen Epoche. Und ich würde auch sagen, dass Marx eine eher rückwärtsgewandte Gestalt ist und kein voraussehender Prophet."

    Rückwärtsgewandt, weil das Material, aus dem Marx seine Theorien schmiedet, seine Überzeugungen destilliert und seinen revolutionären Impetus gewinnt, aus der Zeit der Französischen Revolution und der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert stammt. Nach dem Abschluss seines Studiums, in dessen Verlauf ihn vor allem der Hegel-Schüler Eduard Gans prägte, machte sich der an Hegels Methodik und Feuerbachs Religionskritik geschulte Marx Hoffnungen auf eine Professur in Bonn. Die Thronbesteigung Friedrichs IV., eines Erzreaktionärs, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er landet als informeller Chefredakteur bei der Rheinischen Zeitung in Köln, die von wohlhabenden Kölner Bürgern finanziert wird. Ein Blatt, das gegen Klüngel und Katholizismus im Rheinland liberale Positionen vertreten soll. Um die Zeitung nicht der Zensur auszuliefern, sperrt sich Marx gegen junghegelianische Exzesse im Blatt. Doch vergeblich: Im Frühjahr 1843 kommt, trotz aller Versuche, die engen Grenzen des Erlaubten nicht zu überschreiten, das Verbot. Marx geht ins Exil, nach Paris.

    "Ich bin der Heuchelei, der Dummheit, der rohen Autorität und unsers Schmiegens, Biegens, Rückendrehens und Wortklauberei müde gewesen …"

    schreibt Marx an Arnold Ruge. Diese frustrierenden Erlebnisse mit dem preußischen Obrigkeitsstaat, den er vom reaktionären Zarenreich Russland protegiert sah, prägten Marx bis an sein Lebensende, wie Jonathan Sperber zeigt. Noch vierzig Jahre später forderte Marx den Krieg gegen Russland, um die Macht der Reaktion in Mitteleuropa, vor allem in Preußen, zu brechen. In Paris radikalisiert sich Marx, wird vom Demokraten zum Kommunisten, vom Publizisten zum Revolutionär und kommt in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zu dem Ergebnis:

    "Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen."

    Dann kommt die ersehnte Revolution, und Marx kehrt im Frühjahr 1848 nach Köln zurück. Als Revolutionär und als Journalist. In letztgenannter Eigenschaft, für ein Jahr, durchaus mit Erfolg. Seine Neue Rheinische Zeitung wird in ganz Deutschland gelesen, steht finanziell trotzdem permanent am Rande des Bankrotts. Als Revolutionär bleibt seine Wirkung auf Köln begrenzt. Er versucht, die kommunistische Bewegung in einem taktischen Bündnis mit Liberalen und Demokraten zu halten. Zuerst soll der Absolutismus gestürzt werden, dann erst der Kapitalismus. Diese Revolutionstheorie hatte er sich im Exil zurechtgelegt:

    "Ich würde diese Theorie bezeichnen als eine doppelte Wiederholung der Französischen Revolution. Einerseits wollte er eine Wiederholung der Französischen Revolution in Mittel- und Osteuropa, gerichtet gegen den König von Preußen und gegen den Zar. Und das war eine buchstäbliche Wiederholung mit Schreckensherrschaft und Revolutionskrieg. Andererseits wollte er eine kommunistische Revolution entfachen. Es war theoretisch vielleicht möglich, diese zwei Revolutionen zu verbinden, in der Praxis hat es sich aber als ziemlich schwierig herausgestellt."

    Ende 1849, nach dem Verblühen des europäischen Völkerfrühlings, findet sich Marx in London wieder. Es folgen die härtesten Jahre seines Lebens. Bittere Armut, erbitterter Streit unter den Exilanten, die mit dem baldigen Wiederaufflammen der Revolution rechnen, um Einfluss und Deutungshoheit miteinander kämpfen, wo doch nur ohnmächtiges Zuschauen möglich ist. Der Bruderkampf gegen vermeintliche oder echte Abweichler sei Marx und Engels "zur Obsession" geworden, schreibt Sperber, beide sind politisch und persönlich im Exil lange Zeit weitgehend isoliert. Es folgt das lange, zähe Warten auf die Krise, die endlich das System zum Einsturz bringt. Manchmal nimmt es bizarre Formen an. Unterdessen schreibt Marx. Langsam, weil er zeitlebens Probleme hat, Texte abzuschließen. Er entdeckt immer wieder neue Quellen, lässt Projekte liegen, um andere zu beginnen, verzettelt sich in monströsen Pamphleten, in denen er Kritiker und Andersdenkende geißelt. Häufig projiziert er seine eigenen, mittlerweile überholten Ideen auf andere, um schonungslos mit ihnen abzurechnen:
    "Es war dies die einzige Form der Selbstkritik, die seine Persönlichkeit zuließ …",
    schreibt Jonathan Sperber.

    "… ein Mechanismus, der ihm ermöglichte, an seinem Status als demjenigen, der der Geschichte die Richtung wies, festzuhalten."

    1867 erscheint "Das Kapital", Band eins. Die Folgebände wird Marx nie fertigstellen. Die letzten Jahre seines Lebens ist er überwiegend damit beschäftigt, sein Vermächtnis zu sichern. Er leitet das Ende der Internationalen Arbeiter Assoziation ein, damit sie nicht den Anhängern Bakunins in die Hände fällt. Auf das Gothaer Programm und die Linie der im Schweizer Exil erscheinenden Zeitung der deutschen Sozialdemokratie versucht er mit donnernden Drohungen Einfluss zu nehmen – ohne große Wirkung. Zu dieser Zeit ist der respektierte Ahnherr der Arbeiterbewegung, der Theoretiker einer schon etwas ins Abseits geratenen Wirtschaftslehre und der von den Mächtigen noch immer gefürchtete, unbeugsame Veteran der 48er-Revolution – mehr nicht. Das Zeitalter des Marxismus beginnt erst nach seinem Tod. Sperbers Konzept, Marx vom Ballast des 20. Jahrhunderts zu befreien, geht auf. Sein Marx gehört dem 19. Jahrhundert. Er ist der Revolutionär, dessen Koordinatensystem den Werten der Französischen Revolution entstammt. Der Publizist, der schneidend scharf die Ereignisse seiner Zeit analysiert. Und der Theoretiker, der den Aufstieg der Naturwissenschaften aufmerksam verfolgt, sich dem Positivismus nicht verschließt und doch zeitlebens die Hegelsche Methodik höher veranschlagt. Jonathan Sperber ist eine lesenswerte Biographie gelungen.

    Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert
    C. H. Beck, 634 Seiten, 29,95 Euro
    ISBN: 978-3-40664-096-4