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Rückzug des türkischen Premierministers
"Spannungen sind bei Davutoglu einfach zu groß geworden"

Die relativ einfachen, plumpen Lösungen Erdogans, die ihm zum Teil diktiert wurden, habe der scheidende Premierminister Davutoglu nicht mehr mittragen können, sagte Haci-Halil Uslucan, wissenschaftlicher Leiter am Zentrum für Türkeistudien, im Deutschlandfunk. Erdogan wolle sein Präsidialsystem durchsetzen - und könnte dafür durch Neuwahlen die notwendige Zweidrittel-Mehrheit erlangen.

Haci-Halil Uslucan im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 07.05.2016
    Jürgen Zurheide: Was passiert denn da eigentlich in der Türkei? Auf den ersten Blick scheint das alles klar, der Machtkampf zwischen Premier und Präsident ist entschieden, und obwohl der Präsident eigentlich in der Verfassung der Schwächere von beiden ist, gewinnt er. Er gewinnt eben, weil er Erdogan heißt, und jetzt will er auch noch die Verfassung verändern in Richtung eines Präsidialsystems, manche sagen auch einer Präsidialdiktatur.
    Darüber wollen wir reden mit dem Chef des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Halil Uslucan, den ich jetzt herzlich am Telefon begrüße, guten Morgen!
    Haci-Halil Uslucan: Guten Morgen, ich grüße Sie zurück!
    Zurheide: Zunächst einmal füge ich jetzt noch hinzu zu meiner kleinen Beschreibung gerade. Am Ende ergibt sich dann dieser demnächst scheidende Premierminister und sagt noch sinngemäß: Du großer Führer bist ohnehin der Größte und ich sage nie ein schlechtes Wort über dich. Also, ich habe Mühe, das zu verstehen. Können Sie mir helfen und vielen anderen, das zu verstehen?
    Uslucan: Ja, ich glaube, das kann man durchaus verstehen. Man muss vielleicht einen Aspekt hier hervorkehren: Es wurde ja erwartet – und einige Kommentare haben ja darauf hingedeutet –, Davutoglu könnte seinen Abgang sehr heroisch darstellen, sehr heroisch machen, indem er quasi auch mit Erdogan abrechnet. Ich glaube, gerade indem er höflich bleibt und indem er sozusagen seine Loyalität auch bekundet, führt er einen anderen Politikstil herbei. Das ist in der Tat ein Novum. Ich glaube aber, jeder, der ein Stück weit in den letzten Monaten eigentlich, seitdem er im Amt ist, ein Stück weit die Positionen von Erdogan und Davutoglu verfolgt hat, spürt, dass die Spannung, die Davutoglu, der ein durchaus sehr reflektierter Mensch ist ... Er ist vorher Professor für Politikwissenschaften gewesen, lange Zeit Außenminister, auch ein Berater. Und ich würde jetzt selber aus meiner Profession, aus der Psychologie das so deuten, dass die kognitive Dissonanz bei ihm nicht mehr aushaltbar war. Das heißt sozusagen, die Spannungen zwischen dem, wie eine theoretisch reflektierte, reflektierende Politik sein sollte, und diesen relativ einfachen, plumpen Lösungen, die ihm zum Teil diktiert werden, die er zum Teil selber mitverantworten muss, dass diese Spannungen nicht mehr aushaltbar waren. Und auch die Spannungen auf der einen Seite sozusagen internal bei ihm im Kopf, aber andererseits auch die Spannungen in der AKP selber zwischen Moderat-Islamischen, die an so etwas wie eine islamische Ethik, islamische moralische Grundsätze glauben, und einer anderen Gruppe, die sehr stark machtpolitisch argumentiert, Wirtschaft und Macht zusammen denkt. Und letztlich die islamische Identität wie eine Etikette vor sich trägt, aber machtpolitisch orientiert war ... Dass auch diese Spannungen bei Davutoglu irgendwann nicht mehr aushaltbar waren.
    Zurheide: Das ist ein interessanter Erklärungsansatz. Ich will noch mal etwas anderes abfragen. Hatte denn der Premierminister innenpolitisch Gewicht gewonnen oder ist das wieder die typisch europäisch zentrierte Denkwelt, weil er hier als eher moderater Verhandlungspartner aufgetreten ist? Er war ja genau so, wie Sie ihn beschrieben haben. Was ist in der Türkei eigentlich passiert?
    Uslucan: Starke Debatte über die Stellung Erdogans
    Uslucan: Ich glaube, es gab im Vorfeld ganz starke Diskussionen auch innerhalb der AKP über die Stellung Erdogans. Sie haben ja in der Anmoderation zu Recht gesagt, als Staatspräsident ist er eigentlich zur Neutralität verpflichtet. Aber wir haben allein in den letzten anderthalb bis zwei Jahren, auch im Vorfeld der Wahlen, immer wieder feststellen müssen, dass Erdogan, der ja keine politische Reden halten darf, aber Eröffnungen von irgendwelchen Einkaufszentren, Institutionen nutzt, um auch politisch ... Er ist allgegenwärtig in der Türkei. Und genau das ist jüngst noch einmal konzidiert worden, Herr Generalsekretär der AKP, Abdülhamit Gül – also nicht Abdullah Gül – hat in einer sozusagen internen Diskussion noch mal festgehalten, dass diese Partei, die AKP, eigentlich nur einen Führer kennt, und das ist Erdogan. Und alle haben ihm Folge zu leisten. Wörtlich hat er gesagt: Wir alle hängen auch von ihm ab. Das heißt sozusagen, die Verinnerlichung der Autorität Erdogans ist sehr, sehr stark. Und dort sind Alleingänge oder auch durchaus Profilierungsversuche von Davutoglu nicht gern gesehen worden. In dieselbe Richtung hat sich ein enger Berater, Burhan Kuzu, ein Istanbuler Abgeordneter und Erdogan-Berater, genauso geäußert. Er sagt: Ja, es gab einige Spannungen, Unstimmigkeiten zwischen dem Präsidenten, also zwischen dem Staatspräsidenten und Davutoglu, aber es ist Usus hier, auf den altgedienten Parteiführer Erdogan zu hören. Und ich meine, wenn Sie als Ministerpräsident immer wieder gesagt bekommen, Sie haben nur begrenzte Befugnis. Und eine Person, die eigentlich nur ein repräsentatives Amt hat, letztlich sozusagen im Hintergrund die Fäden zieht ... Deshalb glaube ich, meine psychologische Deutung, dass die Spannungen bei Davutoglu einfach zu groß geworden sind. Wenn Sie selbst sich nicht mehr souverän fühlen, in der Partei nicht mehr den Rückhalt haben und ein Stück weit das bessere Wissen haben, aber auf eine Politik verpflichtet werden, die nicht mehr tragbar ist, dass er deshalb – und das hat er sehr höflich, sehr diplomatisch formuliert –, dass er nicht mehr kandidieren wird. Und die AKP-Statuten sehen vor, dass der sozusagen Parteivorsitzende zugleich auch das Amt des Ministerpräsidenten...
    Zurheide: Jetzt müssen Sie uns aber ...
    Uslucan: ... sehr indirekt formuliert.
    Zurheide: Ja, jetzt müssen Sie aber dann erklären: Was will Erdogan? Die reine Macht, das ist klar, das will er. Will er darüber hinaus, über die Macht, auch den Islam aus Überzeugungsgründen tiefer verankern, in der Verfassung meinetwegen? Wie sehen Sie das? Oder spielt er mit dem Islam, weil das wiederum seiner Macht dient?
    Uslucan: Ich meine, er hat sich selber ja in der Form nicht geäußert. Aber wenn Sie die Debatte, die jetzt in der letzten und vorletzten Woche, wo jetzt der Laizismus infrage gestellt worden ist ... Und das ist ja ein absoluter Tabubruch sozusagen. Bislang haben alle auch islamisch orientierten Parteien nie das öffentlich infrage gestellt. Dadurch ist ein Stück weit sozusagen das Feld des Sagbaren und Denkbaren gesprengt worden. Also, man könnte sagen: Testing the limits, man hat auch ein Stück weit die Grenzen getestet, wie weit reicht die Macht der AKP. Das hat Erdogan nicht selber gemacht, das hat sein Kader gemacht. Aber dadurch sind jetzt Diskurse möglich geworden, die man vorher als nicht denkbar betrachtet hätte.
    Zurheide: Aber es ist doch bei dem, was Sie beschreiben, kaum vorstellbar, dass diese Diskurse geöffnet wurden von Leuten, ohne dass Erdogan es wollte. Oder ...
    Uslucan: Neuwahlen könnten Erdogan stärken
    Uslucan: Natürlich, ja. Im Hintergrund ist das durchaus sozusagen auch ein Szenario, ein stärker islamisches, ein stärker sozusagen quasi auch den Islam verankerndes. Und dadurch letztlich eine Form von Autorität, neo-osmanische Politik zementierendes. Das passt derzeit ganz gut, nationalistisch und islamische, islamistische Haltungen zugleich zu haben, weil dadurch auch ein Stück weit die MHP – eine eher rechts-nationalistisch gerichtete Partei – auch dort Wählerstimmen einholbar sind und zugleich eine eher konservative Bevölkerung nach wie vor sozusagen, bei der der Rückhalt zu holen ist.
    Zurheide: Dann blicken wir jetzt in die Zukunft. Um diese Verfassungsänderung dann durchsetzen zu können, braucht er allerdings Mehrheiten, die er im Moment möglicherweise nicht hat. Das heißt, es wird vieles auf Neuwahlen hinauslaufen?
    Uslucan: Möglicherweise. Und dann, wenn man jetzt das Szenario ein Stück weit vor Augen führt, wenn die HDP es nicht schafft, das nächste Mal ins Parlament zu kommen, unter der Zehn-Prozent-Hürde bleibt, wenn die MHP, die rechts gerichtete Partei ...
    Zurheide: HDP sind die Vertreter der Kurden.
    Uslucan: Genau, wenn die das nicht mehr schafft und die MHP an Stimmen einbüßt, dann ist dieses Szenario durchaus denkbar. Und die CHP, die Sozialdemokraten schaffen es leider nicht, aus all dem, sagen wir mal, Kapital zu schlagen. Das hat man in den letzten Wahlen noch, nach den Gezi-Park-Demonstrationen feststellen können, dass sie kaum substanzielle Wahlerfolge, Gewinne haben einstreichen können. Das waren ein bis zwei Prozentpunkte, trotz sozusagen Korruption. Trotz relativ brutaler Niederschlagung der Demonstration hat das nicht dazu geführt, dass die Opposition gewonnen hat, zumindest nicht die CHP.
    Zurheide: Und wenn wir jetzt einen kurzen Blick noch mal auf die europäisch-türkische Politik werfen und uns mit der Frage der Visa-Freiheit beschäftigen, diesen 72 Punkten, die da erfüllt werden müssen: Da hat Erdogan gestern schon ganz klar gesagt, also, beim Antiterrorkampf lassen wir uns da nicht reinreden, das entscheiden wir schon selbst. Ist das damit das Aus dafür oder testet er auch da wieder nachträglich noch mal wieder Grenzen?
    Uslucan: Ich würde nicht sagen, dass das das Aus ist. Ich meine, man darf nicht verkennen, dass der Terror sozusagen in der Türkei enorme Dominanz hat. Also, ich glaube, aus deutscher Sicht kann man sich das kaum vorstellen, dass jeden Tag 20 bis 30 Tote im Land zu verzeichnen sind. Insofern ist auch für die innenpolitische Lage zu sagen, im Kampf gegen den Terror dürfen wir nicht nach westlichen Vorstellungen agieren. Das ist ein Stück weit Räson, was nicht nur aus AKP-Reihen, sondern auch aus Reihen der Nationalisten, der sozusagen auch Säkularen, der Sozialdemokraten mitgeteilt wird: Da gibt es eine relativ überparteiliche ... Vielleicht muss man jetzt die HDP ausnehmen, weil sie natürlich als stärkerer Interessenvertreter der Kurden wahrgenommen wird und hier eine andere Haltung hat. Ich glaube, dass Erdogan eine sehr starke innenpolitische Agenda betrifft und da weiß, er hat einen großen Rückhalt. Er muss da nicht auf den Westen zugehen.
    Zurheide: Herzlichen Dank, das war Halil Uslucan, der Chef des Zentrums für Türkeistudien in Essen. Wir haben das Gespräch kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.