Freitag, 29. März 2024

Archiv


Rückzug ins Refugium

In dem Essay von Gerd de Bruyn geht es um Max Liebermann. Darin schildert er den inneren Zwiespalt des impressionistischen Malers, sich zwar einer oppositionellen Bewegung in der Kunst zugehörig zu fühlen, aber dennoch die bürgerliche Kultur nicht in Bausch und Bogen verdammen zu können.

Von Gerd de Bruyn | 27.06.2010
    Im Jahre 1910 kam es innerhalb der Berliner Secession zum Konflikt zwischen den Gründern und der nachwachsenden Generation. Den arrivierten Impressionisten, die sich um den 63-jährigen Max Liebermann scharrten, standen die um Aufmerksamkeit ringenden Expressionisten gegenüber, deren Wortführer der 43-jährige Emil Nolde war.

    Als Präsident der Secession führte Max Liebermann auch den Vorsitz über das Komitee, das die Auswahl der Bilder zu bestimmen hatte, die man in der Jahresausstellung zeigen wollte. Nachdem bekannt wurde, dass 27 jüngere Maler nicht berücksichtigt werden sollten, schäumte Nolde vor Wut und forderte in einem öffentlichen Brief Liebermanns Rücktritt:

    "Dem so klugen alten Liebermann geht es wie manchem klugen Mann vor ihm: Er kennt seine Grenzen nicht; sein bedeutendes Lebenswerk (...) zerblättert und zerfällt; er sucht zu retten, wird dabei nervös und phrasenhaft. Ähnlich wie hier ergeht es ihm in seiner Kunst. Er macht, malt und stellt aus, so viel er nur kann. Die Folge davon ist, dass die ganze junge Generation, übersatt, schon nicht mehr seine Arbeiten ansehen kann und mag, dass sie erkennt, wie absichtlich dies alles ist, wie schwach und kitschig nicht nur seine gegenwärtigen Arbeiten, sondern auch so manche seiner früheren es sind."

    1910 sollte für Liebermann ein beschwerliches Jahr werden. Doch stand ihm und seiner Familie auch etwas Schönes bevor: der sehnsüchtig erwartete Bezug des Sommerhauses am Wannsee. Im Vorjahr war der Rohbau auf einem länglichen Grundstück, das bis zum See reicht, fertig gestellt worden. Nach den Wintermonaten kam es zügig zum Innenausbau und zur Anlage des Gartens. Im März aber musste sich Liebermann erst einmal einer lästigen Operation unterziehen, um von seinen Hämorrhoiden befreit zu werden. Der Klinik frisch entronnen, schrieb er Alfred Lichtwark, dem Direktor der Hamburger Kunsthalle:

    "Aus meinem Fenster sehe ich nur Mauern eines riesigen Gasometers, umso lieber denke ich an Wannsee. Heute bin ich zum ersten Male ausgefahren, bin aber noch in traurigem Zustande, namentlich in moralischer Beziehung. Hoffentlich kann ich bald wieder 'vivre par la tête', während ich mich die letzten sechs oder sieben Wochen nur mit meinem Hintern habe beschäftigen müssen."

    Auch als sich Liebermanns Leben wieder 'um den Kopf drehte', war das nächste Unglück nicht abzuwenden: jener bereits erwähnte Streit in der Secession, der mit Emil Noldes Ausschluss endete. 40 Mitglieder stimmten in einer eilig einberufenen Generalversammlung gegen ihn und nur zwei für ihn. Einer davon war Liebermann. Doch konnte das nur diejenigen wundern, die ihn nicht kannten. Der gefeierte Maler war weder nachtragend noch fortschrittsfeindlich. Ein Leben lang hielt er daran fest, dass es nie in erster Linie auf Kunstrichtungen und Regeln ankomme, sondern auf Talent und Charakter. Entsprechend begründete er sein Votum für Nolde mit den Worten:

    "Wir, die wir helfen wollen, gute Kunst zu schaffen und uns nicht zusammengetan haben, um eine Schutzgarde für irgendeinen Künstler, der manchen vielleicht schon zu lange anerkannt ist, zu schaffen, wir wollen uns durch den Ausdruck solchen Hasses nicht aus der Bahn werfen lassen, sondern auch darin noch einen Ansporn sehen, fern von Tyrannei und Bevormundungssucht die Rechte der nachwachsenden Jugend zu wahren. Wenn sich der Most noch so absurd gebärdet, am Ende gibt's doch einen guten Wein."

    Mit Nachsicht rügte Liebermann die Revolte der Jungen. Den Weg zum Erfolg wollte er ihnen auf keinen Fall verbauen. Noldes Unverschämtheit deutete er generös als produktiven Gärungsprozess. Im Unterschied zu Ibsens Baumeister Solness, dem die nachrückende Generation eine Höllenangst einjagt, glaubte sich Liebermann gänzlich ungefährdet. Er wollte nicht mal ausschließen, "schon zu lange anerkannt" zu sein! Man muss sich seine Selbstironie im schnoddrig vorgetragenen Berliner Ton vorstellen, um seine Spottlust zu ermessen. Über sie klären uns auch etliche "dialektische" Bonmots auf, die im alten Berlin kursierten.

    "Zu Liebermann sagte ein begeisterter Anhänger seiner Kunst: 'Meister, je mehr ich mich in die Kunst versenke, desto klarer wird mir: es gibt nur zwei große Maler, Velázques und Sie!' Worauf Liebermann erwiderte: 'Wat denn, wat denn, wieso Velázques?'"

    Sein intaktes Selbstwertgefühl verdankte er seiner Tüchtigkeit, seinem Talent und der meisterlichen Malweise, die sich gleich im ersten Bild, mit dem er sich an einer Ausstellung beteiligte, offenbarte. Es heißt "Die Gänserupferinnen" und zeigt verhärmte Bäuerinnen, die in einer dunklen Scheune ängstlich flatternde Gänse von ihren Daunenfedern "befreien".

    1872 bekam das entrüstete Publikum der Hamburger Kunstausstellung diese rüde Szenerie zu Gesicht. Die Kritik heftete dem Künstler postwendend das Etikett des "Schmutzmalers" an. Abscheu rief hervor, dass die virtuose Technik, die dem jungen Maler durchaus attestiert wurde, sich an einem derart unappetitlichen Vorgang verschwendet hatte. Doch Liebermann ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. Das hatte ja nicht mal sein Vater vermocht.

    Louis Liebermann war es schwer gefallen, seinen Sohn Künstler werden zu lassen. Er erlaubte dem Knaben Malunterricht, doch dachte er nicht im Traum daran, Max würde sein Talent zum Beruf machen. Als zwei frühe Zeichnungen in einer Zeitschrift abgedruckt werden sollten, untersagte er dem Sohn die Nennung des Familiennamens.

    Schließlich waren die Liebermanns ehrbare Geschäftsleute und keine Bohemiens! Doch zögerte der Vater Jahre später, als er seinen Kampf gegen den Berufswunsch des Sohnes längst verloren hatte, nicht, die "Gänserupferinnen" ihrem Erstbesitzer abzukaufen, nachdem dieser Konkurs gegangen war.

    Max wurde als drittes von vier Kindern am 20. Juli 1847 in Berlin geboren. Seine Eltern Louis und Philippine Liebermann waren sehr wohlhabend. Ungeachtet dessen orientierten sich Erziehung und Haushaltsführung an preußischer Disziplin und Mäßigung. Das hinderte die Familie indessen nicht, ein Stadtpalais direkt neben dem Brandenburger Tor zu erwerben, als Max zwölf Jahre alt war.

    Der prominente Wohnsitz symbolisierte, dass die Liebermanns in den höchsten Berliner Kreisen angekommen waren. Fragte man in der Hauptstadt, wo der berühmte Maler wohne, hieß es: gleich links, wenn man in Berlin reinkommt.

    Großvater Josef Liebermann, ein mutiger Firmengründer, hatte den Grundstock für ein großes Familienvermögen gelegt. 1823 war er in die Hauptstadt gezogen, um dort mit seinen Brüdern ein Textilunternehmen aufzubauen. Wie erfolgreich sie dabei vorgingen, zeigt folgende Begebenheit:

    "In Bad Teplitz, auf der Kurpromenade, wurde Josef Liebermann 1839 dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. vorgestellt, den Friedrich Engels einen der 'größten Holzköpfe nannte, die je einen Thron zierten'. Kein Wunder, dass der mit dem Namen Liebermann nichts anzufangen wusste, doch Großvater Josef klärte ihn auf: Wir sind die Liebermanns, die die Engländer vom Kontinent vertrieben haben."

    Mit dieser Vertreibung war ein großer ökonomischer Sieg gemeint. Die Liebermanns hatten schon mit Baumwolle gehandelt, bevor sie nach Berlin kamen, doch in der Großstadt konnten sie endlich die Chancen der Industrialisierung nutzen. Als erster preußischer Unternehmer schaffte Großvater Josef Maschinen zur Herstellung von Kattun-Stoffen an und durchbrach damit das englische Monopol.

    Seine "prussian shawls", anmutig bedruckte Schultertücher aus Kattun, prägten die Mode des Biedermeier und wurden zu Verkaufsschlagern in ganz Europa. Übrigens brachten die Liebermanns neben Unternehmerpersönlichkeiten und Künstlern noch Erfinder, Wissenschaftler und Politiker hervor. Wenn freilich heutzutage der Name Liebermann fällt, ist stets der Maler gemeint.

    "In Liebermann bewundere ich Berlin", schrieb Thomas Mann, der den toleranten Geist der Stadt von keinem anderen besser repräsentiert fühlte. Gleichwohl verdankte die Hauptstadt ihre "lichte" Seite nicht nur dem Maler, der so wirkungsvoll die Sonnenstrahlen einzufangen wusste, die durch die Bäume des Tiergartens schienen. Berlin verdankte das nicht geringere Wunder seiner elektrischen Beleuchtung ebenfalls einem Mitglied der Liebermann-Familie: Emil Rathenau, dem Gründer der AEG, der die Stadt mit Strom versorgt hatte.

    Impressionismus und Elektrizität, Kunst und Technik, das sind die zwei Seiten einer Medaille, die eine Familie wie die Liebermanns zierte. Emil Rathenau war Max Liebermanns Cousin. Von ihm fertigte er 1908 ein imposantes Bild an, das den Großindustriellen in seinem Büro zeigt, und im gleichen Jahr auch ein koloriertes Porträt, das einen skrupellosen Machtmenschen mit abfällig heruntergezogenen Mundwinkeln verrät.

    Was Liebermann über seinen Vetter Emil Rathenau dachte, gab er fünfzehn Jahre nach dessen Tod zum Besten, angeregt durch ein Porträt ganz anderer Art, das ein damals noch wenig bekannter Schriftsteller vorgelegt hatte. 1930 war der erste Band von Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" erschienen. Hierüber frozzelte Liebermann in einem führenden Zeitgeistmagazin:

    "Da habe ich jetzt diesen Roman von Musil gelesen, wie heißt er gleich? Richtig: 'Der Mann ohne Eigenschaften'. Ein furchtbares Buch. Aber hoch interessant! Wissen Sie, da kommt doch der Rathenau vor, das war ja mein Vetter, ich habe ihn gut gekannt. Mich wundert bloß, woher dieser Musil das hat. Er beschreibt ihn so eindrücklich und rücksichtslos, wie nur jemand schreiben kann, der selbst den gleichen Charakter hat."

    Liebermanns Äußerung machte es öffentlich, dass Emil Rathenau das Vorbild für Paul Arnheim abgegeben hatte, der in Musils Roman die Rolle eines machtgierigen Industriellen verkörpert. Solche Menschen behagten Liebermann nicht. Es ist offensichtlich, dass er nicht nur mit dem Wunsch, Maler zu werden, Abstand zu seiner bourgeoisen Herkunft gewinnen wollte, sondern seinem Protest in den frühen Bildern auch eine klare Richtung zu geben wusste.

    Die aber nicht politisch motiviert war! Das über seine Feldarbeit und Schweinekoben gebeugte Landvolk, die krummen Rücken stopfender Großmütter und nähender Waisenmädchen, die stummen Arbeiterinnen in Flachsscheuer oder Konservenfabrik – sie alle künden nicht von Ausbeutung und entfremdeter Arbeit. Sie sind nicht der soziale Aufschrei eines gegen Klassengesellschaft und Großkapital aufbegehrenden Künstlers, sondern beschwören eine heile Welt ohne Industriestädte und Fabrikschlote herauf. Liebermann pries die Arbeit unter freiem Himmel und in alten Manufakturen, wie der 1887 gemalten "Seilerbahn", wo Männer unter dem Schatten hoher Bäume bedächtig ihre Bahnen abschreiten, um Taue zu winden.

    Als Liebermann seinen Vetter Rathenau malte, war der romantische Naturalismus der Anfangsjahre aus seinen Bildern verschwunden und hatte einem Malstil Platz gemacht, der ihm neue Sujets bescherte: badende Knaben am Strand, ausreitende Damen, smarte Tennis- und Polospieler und was dergleichen Vergnügungen mehr für die vornehmen Stände sein mochten.

    Dennoch stand damals nicht der Wechsel des Sujets im Vordergrund, sondern der Umstand, dass die Würde traditioneller Arbeit in der neu gewonnenen Freiheit seiner impressionistischen Malweise aufging. Die Kunst sollte nicht länger am Gängelband des naturalistischen Nachahmungsgebots geführt werden. An seine Stelle trat ein hoch poröser Subjektivismus, der die stimmungsvollen Augenblicke aufsaugen und reproduzieren wollte, die blühende Gärten, fröhliche Geselligkeiten und sportiver Freizeitspaß in uns hervorrufen.

    Subjektivismus allein reichte freilich nicht aus, um solche Stimmungen festhalten zu können. Hierzu war ein in systematischen Experimenten geförderter forschender Umgang mit Farbe nötig, wie ihn Claude Monet in seinen Bilderserien demonstrierte. Monets Heuhaufen- oder Pappelgemälde präsentieren immer gleiche Motive im unterschiedlichen Licht wechselnder Tages- und Jahreszeiten. Auch Liebermann stellte die Untersuchung von Licht und Farbe über die Bedeutung von Bildinhalten. Im Aufsatz "Die Phantasie in der Malerei" erklärte er apodiktisch:

    "Der spezifische Gehalt des Bildes ist um so größer, je geringer das Interesse an seinem Gegenstande selbst ist; je restloser der Inhalt eines Bilds in malerische Form aufgegangen ist, desto größer ist der Maler."

    Das Sujet hatte seine Bedeutung für die moderne Malerei verloren. Der Inhalt der Bilder wurde zu ihrem Ornament, während sich ihr ästhetischer Gehalt einer Malweise verdankte, die von akademischen Regelwerken nichts mehr wissen wollte. Aus diesem Grund blieb Liebermann Zeit seines Lebens ein ketzerischer Zug erhalten. Aus einem Brief an den Kunstkritiker Frank Servaes erfahren wir:

    "So unbequem es auch für uns ist, dass uns von oben her Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, so nützlich halte ich es für die Bewegung, die, sobald sie aufhört, oppositionell zu sein, im eignen Fette erstickt. Wir müssen dem braven Bourgeois stets um ein paar Nasenlängen voraus sein."

    Die oppositionelle Bewegung, der sich Liebermann zugehörig fühlte, wollte die bürgerliche Kultur nicht in Bausch und Bogen verdammen, sondern Abstand halten zum Kunstgeschmack des braven Publikums. Liebermann war die Rolle des Rebellen fremd. Er gab das Paradebeispiel eines Kunstbürgers, der mit seiner Herkunft wenig haderte.

    Erst ein barbarisch hervorbrechender Antisemitismus vermochte ihn aus der Balance zu werfen. Sein progressives Künstlertum verdankte sich zu keinem Zeitpunkt rastloser Ruhmsucht. Oberstes Ziel war ihm nie das Neue um seiner selbst willen. Im Zentrum seiner Trost spendenden, die Seele des Betrachters liebkosenden Malweise stand ein emphatischer Naturbegriff, aus dem Liebermann den Sinn seiner gesamten künstlerischen Existenz bezog.

    "Die Nachahmung der Natur seitens des Künstlers ist immer eine Nach- und Neuschöpfung, die in der Darstellung dessen besteht, was er und kein anderer in die Natur hinein oder aus der Natur heraussieht. Aber künstlerisches Sehen heißt nicht nur optisches Sehen, sondern auch Erschauen der Natur: Der Künstler gibt den Begriff der Natur, und zwar seinen Begriff von der Natur; nur wer sie als lebendiges Ganzes anschaut, ist ein Künstler."

    Deutlich wird an dieser Stelle, dass die subjektive Wahrnehmung zur höchsten Instanz der künstlerischen Produktion ernannt wird, doch nur, damit die Natur am sezierenden Blick der Moderne vorbei als "lebendiges Ganzes" bewahrt werden kann. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die sich in unzähligen Einzelbeobachtungen verlieren, hoffte Liebermann, die Einheit der Natur lasse sich in den unverwechselbaren Interpretationen fantasievoller Künstler wieder herstellen.

    Seiner Meinung nach ging es in der Malerei allein darum, die reale Natur in einen idealen Gehalt zu überführen. Entsprechend betonte er, das Naturschöne bilde stets den realistischen Ausgangspunkt, der sich im Durchgang durch das ästhetische Subjekt in ein idealistisches Kunstschönes verwandle.

    Doch wer war in der Lage, diese Verwandlung zustande zu bringen? Reichte hierzu eine rege Fantasie aus? In der Antwort auf diese Frage erwies sich Liebermann als Mensch des 19. Jahrhunderts. Suchten die Avantgardebewegungen den Geniekult der Wagnerzeit aus der Welt zu schaffen, beharrte er, der Wagner zutiefst verabscheute, darauf, dass allein das Genie das Wesen der Natur erfassen und in die Kunst übertragen könne.

    1921 las Liebermann Kants "Kritik der Urteilskraft" und war sogleich angetan von der offenkundigen Verwandtschaft ihrer Gedankengänge. Dass der Königsberger die individuelle Deutung der Natur ihrer regelhaften Nachbildung überordnete, bewog ihn, dem Kunstsammler Julius Elias zu schreiben:

    "Das Merkwürdige in dem Buche besteht darin, dass Kant die Wirklichkeit des Dings, der Sache, in die Wirklichkeit des Bildes verlegt; was die Grundlage der modernen ästhetischen Anschauung auch ist. Von hier aus – und das ist das Merkwürdigste – gelangt er zu dem Schlusse, dass es doch ein Urteil geben kann, worin unser ästhetisches Gefühl beruht: er untersucht nicht das Ding an sich, sondern unsre Vorstellung vom Ding oder: das Objekt ist nur das Korrelat zum Subjekt."

    Das passende Naturkorrelat zum Künstlersubjekt Liebermann war zu dieser Zeit längst sein Garten am Wannsee. In den Jahren des Krieges, in denen er nicht mehr verreisen konnte, fand er dort seine wichtigsten Motive. Ähnlich Monet, der 36 Schaffensjahre der Anlage und Gestaltung seines Anwesens in Giverny gewidmet hatte, investierte Liebermann den Großteil seiner verbleibenden Arbeitskraft in den Wannseegarten.

    Es war beinahe so, als hätte sich ein Kreis geschlossen. – Fern des Großstadtlärms fand Liebermanns Flucht vor der Industriekultur, der seine Familie ihren Reichtum verdankte, ihr beschauliches und ihr konzeptionelles Ende! Denn im Unterschied zu seinen Nachbarn, die allesamt größere Villen bewohnten und Gärten im englischen Stil angelegt hatten, legte Liebermann Wert auf den bürgerlichen Charakter seines Hauses und mehr noch auf die "bürgerliche Architektur" seines Gartens.

    Im vorderen Teil muss man gar von einem "architektonischen Garten" reden. Hierunter sind geometrische Anlagen gemeint, wie wir sie aus Renaissance und Barock kennen. Sie stehen im Widerspruch zur organisch aufgelösten Form des englischen Gartens, der auch Landschaftsgarten genannt wird.

    Obschon dem Zeitalter der Aufklärung entstammend, kann man den englischen Garten kein bürgerliches Produkt nennen. Als bürgerlich dürfen wir allenfalls die intensivierte Naturnähe bezeichnen, die er intendiert. Landschaftsgärten nach allen Regeln der Kunst anzulegen, war allein steinreichen Großgrundbesitzern wie dem Fürsten von Pückler Muskau vergönnt, der das Privileg genoss, sich mit seinen gigantischen Gartenplänen zu ruinieren.

    Über andere, die hierzu nicht in der Lage waren, mokierten sich Goethe und Schiller, die selbstverständlich Befürworter des englischen Gartens waren, aber das Ansinnen, ihn in bürgerlichen Dimensionen zu verwirklichen, für mehr als albern hielten. Die zum Scheitern verurteilten Versuche, den Landschaftsgarten en miniature anzulegen, ließen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Frage nach dem genuinen Bürgergarten laut werden.

    Hierauf gab Alfred Lichtwark mit dem Konzept, das er für Liebermanns Garten entwickelte, eine reichlich späte, dafür aber umso gelungenere Antwort. Lichtwark ließ sich von der Hoffnung leiten, ein planvolles Mit- und Ineinander architektonischer und englischer Elemente würde den Bürgergarten aus der Taufe heben. Dieser sollte von den Möglichkeiten der Miniaturisierung profitieren, die der barocke Garten eröffnet, und ebenfalls das Gefühl der Weite hervorrufen, das den Landschaftsgarten auszeichnet.

    Aus der Platzierung des Hauses in der Mitte des Grundstücks resultierte eine Zweiteilung, die es nahe legte, dem Bereich, der seinen visuellen Abschluss im gegenüberliegenden Uferpanorama fand, den Charakter eines Landschaftsgartens zu verleihen, während der zur Straße liegende Bereich zum architektonischen Garten wurde. Liebermann bestand gegenüber seinem Architekten Paul Baumgarten darauf, von einem Teil seines Grundstücks ungehindert durch sämtliche Fenstertüren des Hauses hindurch in den anderen Teil schauen zu können. Villa und Garten sollten so eine unverbrüchliche Einheit bilden.

    Überhaupt dürfen wir den in Liebermann schlummernden Architekten nicht unterschätzen. Das "Haus im Garten" bildete ein wichtiges Motiv seines Schaffens, wobei auch hier gilt, dass er ländliche Situationen bevorzugte. Im Bild "Die Bleiche" von 1885 werden Laken auf der Wiese vor einem holländischen Landhaus ausgebreitet. Hell leuchten sie in der Sonne, als seien hier die für Liebermanns Gemälde so typischen Lichttupfer ins Riesenhafte angewachsen.

    Auf seinem eigenen Anwesen kam es schließlich zum harmonischen Nebeneinander von ländlicher Idylle und bürgerlicher Kommodität. Letztere gibt sich auf Gemälden wie "Die Gartenbank" zu erkennen, das die weiß gekleidete Tochter des Künstlers mit dem gleichen freundlichen Licht überzieht wie den Rasen davor und die Sträucher dahinter. Hingegen ruft ein Bild wie "Blumenstauden am Gärtnerhäuschen", das 1928 entstand, eine rustikale Atmosphäre hervor, die mit ihren Farbexplosionen auch einen Nolde in Freudentaumel versetzt haben wird.

    Grellfarbige Staudenbilder und wolkenverschattete Kohlfelder weisen uns darauf hin, dass Lichtwark noch ein drittes Element in Liebermanns Reich eingeführt hatte: den Bauerngarten. Er bildete das Scharnier, das die geometrischen und organischen Elemente miteinander verband. Zudem verkörperte er den wichtigsten Grundsatz der modernen Ästhetik: dass etwas Unpraktisches nicht schön sein kann.

    Die nützliche Gemüsegärtnerei wurde im Krieg derart ausgedehnt, dass die Liebermanns keinen Hunger leiden mussten. Die Vereinigung von Stadt- und Ackerbürger folgte einem Programm, das sich die moderne Welt ohne Bourgeoisie und Industrieproletariat wünschte. Freilich auch ohne aristokratische Allüren. 1922 schrieb Liebermann an Fritz Stahl, einem Redakteur des Berliner Tageblatts:

    "Schade, dass Sie nicht zu meinem Geburtstage hier waren. Es war sehr nett und auf Augenblicke vergaß man der fürchterlichen Zeitläufe. Sehn Sie sich doch mal mein 'Schloß' am See an, übermütig sieht's nicht aus (wie Lenbachs oder Stucks Paläste), aber ich glaube, dass es nach mir aussieht."

    Dass ihm das "bescheidene" Haus am Wannsee, das er ironisch sein Klein-Versailles nannte, gleiche, hört sich uneitel an und beinhaltet dennoch ein stolzes Bekenntnis. Immerhin bildete es das Zuhause eines Mannes, der wusste, dass die führenden Kunstrichter seiner Zeit nicht die zu Rittern geschlagenen Lenbach und Stuck, die sich wie halbe Fürsten gebärdeten, sondern ihn, den Bürger Liebermann, für den größten lebenden deutschen Maler hielten.

    Liebermann repräsentierte eine Position, mit der sich ein Bürgertum identifizierte, das sich dem Bildungshumanismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet fühlte und liberal gesinnt war. Auch in Wannsee fanden diese Kreise zueinander.

    Durch direkte Nachbarschaft entwickelte sich mit der Familie Hamspohn ein engeres Verhältnis. Johann Hamspohn gehörte der Deutschen Fortschrittspartei an und war ehemaliges Mitglied des Reichtags. Als die Liebermanns nach Wannsee kamen, hatte er sich schon seines Alters wegen aus der Politik zurückgezogen.

    Am Morgen des 25. Juni 1922 kam Johann Hamspohn schluchzend in den Garten der Liebermanns gelaufen, um die schockierende Nachricht von der Ermordung Walter Rathenaus, des deutschen Außenministers und ältesten Sohnes von Emil Rathenau, zu überbringen. Er war in seinem Wagen von zwei Offizieren, die einer rechtsextremen Organisation angehörten, mit fünf Schüssen und einer Handgranate getötet worden.

    "Wenn es eine Macht gibt, die wir vernichten, mit allen Mitteln zu vernichten die Aufgabe haben, dann ist es der Westen und die deutsche Schicht, die sich von ihm überfremden ließ. [ ... ] Mögen die Rathenaus das treiben, was die Schwätzer Erfüllungspolitik nennen. Was geht das uns an, die wir um höhere Dinge fechten."

    Dieses Zitat stammt aus dem Roman "Die Geächteten" von Ernst von Salomon, der am Attentat beteiligt war und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Er und seine Spießgesellen strebten eine nationale Revolution an. Noch aber stand die öffentliche Meinung zur Weimarer Republik und verabscheute den politischen Fememord.

    Zum letzten offiziellen Höhepunkt im Leben Max Liebermanns geriet die Feier zu seinem 85. Geburtstag. Im Sommer 1932 fand am Wannsee ein großes Fest statt, in dessen Verlauf dem Maler die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin verliehen wurde. Doch nur ein halbes Jahr später marschierten schon die braunen Horden unter den Fenstern von Liebermanns Stadtwohnung durchs Brandenburger Tor. Es ist gut möglich, dass er und seine Frau kurz darauf die hoch in den Himmel schlagenden Flammen des brennenden Reichstags gesehen haben. Als schließlich auch die Bücher brannten, trat Liebermann aus der Akademie der Künste aus und verriet der jüdischen Central-Vereins-Zeitung seine Motive:

    "Ich habe während meines langen Lebens mit allen meinen Kräften der deutschen Kunst zu dienen gesucht. Nach meiner Überzeugung hat Kunst weder mit Politik noch mit Abstammung zu tun, ich kann daher der Preußischen Akademie der Künste, deren ordentliches Mitglied ich seit mehr als 30 Jahren und deren Präsident ich zwölf Jahre gewesen bin, nicht länger angehören, da dieser mein Standpunkt keine Geltung mehr hat."

    Am 8. Februar 1935 starb Max Liebermann. Vorher war er schon zwei Jahre lang totgeschwiegen worden. Am 20. Januar 1942 fand in der Nachbarschaft seines Gartens die Wannseekonferenz statt, um die Auslöschung der Juden bis ins kleinste Detail zu regeln. Einigen Angehörigen der großen Liebermann-Familie war es gelungen, ins Ausland zu flüchten, andere endeten in den Vernichtungslagern der Nazis. 1943 sollte auch Liebermanns 86-jährige Frau Martha nach Theresienstadt deportiert werden. Bevor es dazu kam, nahm sie sich das Leben. Zwölf Jahre zuvor hatte ihr Mann, der letzte Vertreter einer seelenvollen Modernität, notiert:

    "Das Höchste, wozu es der Mensch bringen kann, ist: sich zur Freiheit durchzukämpfen, seiner Intuition folgen zu dürfen. Die Freiheit wird einem nicht geschenkt, sondern sie muss erobert werden, und dieser Kampf heißt das Leben."

    In der fünften Folge unserer Reihe "Kunstbürger-Bürgerkunst – Anfang und Ende der Vision des Glücks" hörten Sie einen Essay von Gerd de Bruyn über "Max Liebermann oder: Rückzug ins Refugium." Am kommenden Sonntag beginnen wir mit einer dreiteiligen Gesprächsserie von Christoph Burgmer über die "Iranische Moderne".