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Ruhrtriennale
Totentanz für die Verdammten der Zeitgeist-Hölle

"Model" ist der erste Teil von Richard Siegals neuer Choreographie für das Bayerische Staatsballett. Er wurde im Rahmen der Ruhrtriennale uraufgeführt. Mit überall platzierten Bewegungseruptionen verwandelt Siegal dabei den Raum in einen Hexenkessel.

Von Nicole Strecker | 16.08.2015
    Das muss wohl die wahre Hölle für einen Choreografen sein: Der Triumph der ästhetischen Tradition über die Gegenwart, wenn die schlichte Schönheit der Ballettakademik trotz ihrer Konventionalität mehr Wirkung entfacht als jede mühsam entwickelte Bewegungs-Innovation. Ein Albtraum für einen zeitgenössischen Tanzkünstler – den Richard Siegal zu Beginn seines neuen Stücks "Model" mit sarkastischer Selbsthintertreibung wahr werden lässt.
    Der Sound von Komponist Lorenzo Bianchi Hoesch hämmert plötzlich los, als wäre man auf einem Kriegsschauplatz. Doch gegen die Gewalt der Musik tanzt eine einsame Ballerina und sie muss nur mit einer formvollendeten Serie von Drehungen auf Spitzenschuhen einen aus Licht geschaffenen Trichter umrunden, schon wird man ganz gemütvoll. Die Harmonie klassischer Bewegung - durch nichts ist sie zerstörbar, ein garantierter Seelenfänger. Doch der Liebreiz ist eine trügerische Verführung, denn man weiß ja: Es sind die Höllenkreise aus dem ersten Teil der "Göttlichen Komödie", die die engelsgleiche Tänzerin mit ihren Drehungen markiert. Dantes Dichtung ist Ausgangspunkt für Richard Siegals Choreografie. So sind es also Unterwelt-Visionen aller Art, die die Bewegungsästhetik auf seiner Bühne prägen - ein stets ergiebiges, wenn auch nicht gerade originelles Leitmotiv. Stroboskop-Gewitter setzen unvermittelt ein und verziehen sich wieder. Ein Paar findet sich wie zwei Untote zum barocken Schreit-Tanz, während um sie herum wie in einem Club jeder Tänzer sich im Individualstil austobt zur Walpurgisnacht der Bewegungscodes. Später wird das Ensemble zum ordentlichen Defilee aufgestellt, was vielleicht an die Hölle des Unisono-Drills in jeder Tänzerkarriere erinnern soll. Das Wort "Paradise" blinkt höhnisch auf einem LED-Monitor wie auf einer Werbetafel. Und eine Frau im Hintergrund schreit Schimpfwörter heraus, wobei der sprachliche Gewaltakt auch ihre Bewegungen verzerrt.
    Der neuen Choreografie "Model" ist das 2014 entstandene, 20minütige "Metric Dozen" wie ein Prolog vorangestellt, und es wirkt, als habe es eine Titelverwechslung zwischen den Stücken gegeben. Denn eigentlich stolzieren in "Metric Dozen" die Tänzer wie auf dem Catwalk auf und ab - rotzige Top-Models, die ihre supervirtuose Sexyness mit einer Attitüde präsentieren, als zeigten sie dem Publikum eigentlich gerade einen Stinkefinger.
    Hier wie auch in "Model" fragt man sich schon gelegentlich, ob da wirklich mehr und präzise Durchdachtes dahinter steckt - oder ob es doch nur eine hippe Show ist? Allerdings: Wie delikat Siegal die Körper, speziell die nackten Beine inszeniert, wie er den Raum mit überall platzierten Bewegungseruptionen in einen Hexenkessel verwandelt und in seinem Tanzinferno vulgäres Posing, geisterhafte Zartheit und entseelte Muskel-Mechanik fließend ineinander übergehen – das ist schlicht überwältigend. Ein aggressiv-kalter Totentanz für die Verdammten in der Zeitgeist-Hölle.