Islamwissenschaftlerin über die Kopftuch-Debatte

Die Frauen selbst werden zu selten angehört

Aquila S. sitzt am 30.06.2016 im Verwaltungsgericht in Augsburg (Bayern) vor Richter Bernhard Röthinger (l). Die Jurastudentin klagt vor dem Gericht gegen Einschränkungen beim Rechtsreferendariat wegen des Tragens eines Kopftuches.
Eine muslimische Jurastudentin klagt vor dem Verwaltungsgericht Augsburg gegen das Kopftuchverbot in Bayern. © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Schirin Amir-Moazami im Gespräch mit Thorsten Jabs · 06.05.2018
Darf eine muslimische Grundschullehrerin mit Kopftuch unterrichten? Interessant an der Debatte: Bedecken christliche Frauen ihren Kopf, wird nicht diskutiert. Generell werde an den Kopftuchträgerinnen vorbei debattiert, meint Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami.
Thorsten Jabs: Darf eine Lehrerin in einer Berliner Grundschule mit Kopftuch unterrichten? In der kommenden Woche will das Landesarbeitsgericht der Hauptstadt über diese Frage entscheiden – und damit wird wieder einmal die Debatte rund um das Kopftuch angeheizt, die in Deutschland seit Jahren tobt – nicht zuletzt durch Forderungen, es jungen Mädchen zu verbieten, in der Schule ein Kopftuch zu tragen. Wir haben es mit einer Debatte auf vielen Ebenen zu tun – eben der genannten juristischen, in der es um das Verhältnis zwischen Staat und Religion geht, aber natürlich auch der religiösen, der politischen und der feministischen. Darüber spreche ich jetzt mit Schirin Amir-Moazami, Professorin am Institut für Islamwissenschaft an der FU-Berlin, die ganz herzlich im Studio begrüße. Guten Tag, Frau Amir-Moazami!
Schirin Amir-Moazami: Guten Tag, Herr Jabs!
Jabs: Wenn man sich mit der religiösen Ebene kurz beschäftigt, heißt es meistens, dass es drei Textpassagen des Korans gibt, auf die das Gebot des Kopftuchtragens gründet. Was steht denn da genau?
Amir-Moazami: Also was da genau steht, ist eigentlich nichts über das Kopftuch als solches, sondern es geht eigentlich eher um Bedeckung von weiblichen Reizen, von Reizen allgemein, die sich aber doch schon durchaus auf Frauen auch beziehen. Also Frauen sollen ihre Scham bedecken, Frauen sollen ihre weiblichen Reize bedecken, wenn sie in die Öffentlichkeit treten. Das ist das, was so am meisten rezitiert wird. Es gibt aber auch eine Sure, 33, 53, aber auch 24, 30, wo vor allem die Geschlechtertrennung reguliert ist, also wo der Zutritt der Männer in den weiblichen Bereich verboten wird oder beziehungsweise reguliert wird. Die Auslegung ist aber sehr komplex.
Mit der Deutung als Symbol ist es schwierig
Jabs: Da wollte ich nachfragen: Heißt das, dass das Wort Kopftuch eigentlich gar nicht explizit geschrieben steht, sondern dass das alles eher Auslegungssache ist?
Amir-Moazami: Ja, Kopftuch ist ohnehin ein deutsches Wort, also insofern, wenn überhaupt von Bedeckung die Rede ist, dann ist das der Hijab. Das würde man jetzt übersetzen mit Gewand, Schleier, und Kopftuch, so, wie wir es jetzt hier vorfinden auch in unseren europäischen Gesellschaften, findet keine Erwähnung in dieser Form, was aber nicht bedeutet, dass Bedeckung nicht auch Kopftuch heißen kann.
Ein Mädchen mit Kopftuch an einer Schule
Schülerin mit Kopftuch an einer deutschen Schule.© dpa / Marcus Führer
Jabs: Vor allem in der politischen, aber auch in der feministischen Debatte hat man den Eindruck, das Kopftuch wird als Symbol dargestellt, sowohl für die Trägerinnen als auch für die Kritiker. Machen es beide Seiten dazu?
Amir-Moazami: Ja, also mit dem Symbol ist irgendwie schwierig, finde ich, weil Symbol hat den Anspruch, irgendwas Konkretes, Kompaktes in die Öffentlichkeit zu tragen, nach außen zu tragen, also Zeichenhaftigkeit. Wir müssen, glaube ich, die Komplexität ernster nehmen, und wenn wir das Kopftuch beziehungsweise die Bedeckung der weiblichen Reize – sagen wir es jetzt mal so – als Körperpraxis verstehen, dann ist das Symbol eigentlich nicht das, um was es geht, sondern es ist eine komplexe Angelegenheit, die mit sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen und religiösen Bedingungen zu tun hat und dann jeweils von den Trägerinnen unterschiedlich praktiziert wird und auch komplex und dynamisch sein kann.

Ein Debatte, die in die Kolonialzeit zurück reicht

Deswegen ist der Begriff "Symbol" eigentlich ein bisschen fehlgeleitet. Der hat aber eine Funktion, also, das müssen wir auch noch mal vor Augen halten, weil wir müssen einfach wissen, dass wir hier in unseren europäischen Gesellschaften Rechte haben, die auf eine bestimmte Art und Weise auch gefüllt werden müssen, also brauchen wir sowas wie ein Kompaktsymbol, um es auch rechtlich regulieren und deuten zu können.
Jabs: Sie sagen ja, es ist eine Debatte, die auf so vielen unterschiedlichen Ebenen geführt wird, die alles miteinander verwebt, politische, kulturelle, religiöse, soziale Aspekte. Warum wird diese Debatte rund um das Kopftuch aus Ihrer Sicht so emotional geführt?
Amir-Moazami: Das ist auch wieder eine Frage, wo wir eigentlich so ein bisschen zurückgehen müssten noch mal in die Geschichte. Wir haben in Deutschland zwar diese Kopftuchdebatten erst seit, sagen wir mal, 20 Jahren oder vielleicht auch schon mittlerweile ein bisschen länger. Die Debatten über das Kopftuch oder über die Verschleierung des weiblichen Körpers hat aber auch eine koloniale Vergangenheit, und ich glaube, die hat auch Deutschland nicht ganz unbefleckt gelassen.
Sie sehen vier Frauen mit Kopftuch auf einer Wiese.
Über das Tragen des Kopftuches sollte in der Öffentlichkeit viel mehr geredet werden, findet Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami.© picture-alliance / dpa / Silke Reents
Also, das heißt, der Eingriff in den weiblichen Körper von Kolonialherren hat eine längere Geschichte, und dass das so emotional geführt wird, hat auch was damit zu tun, dass in der Kolonialzeit vor allem immer wieder so ein Ideal von einer entschleierten emanzipierten Frau in diese Welt getragen wurde. Wenn wir dieses Ideal von Transparenz, von Sichtbarkeit, von körperlicher Sichtbarkeit ernst nehmen, dann löst der verschleierte, bedeckte Körper, die bedeckte Frau eben auch Unbehagen aus bei jedem, die eben dieses Ideal von Entblößung auch vor Augen haben.

Terrorismus und das Böse wird auf das Kopftuch projiziert

Jabs: Was ist denn mit der Ablehnung von Bedeckungen in anderen Religionen? Meistens geht es nur um das islamische Kopftuch. Nonnen tragen Kopfbedeckungen, früher haben christliche Frauen, wenn sie in die Kirche gegangen sind, ihre Köpfe bedeckt, orthodoxe Christinnen bedecken ihre Köpfe. Warum wird da nicht so emotional diskutiert?
Amir-Moazami: Das ist eine sehr gute Frage. Das, glaube ich, hat was damit zu tun, dass der Islam als solcher sehr häufig als Bedrohung empfunden wird und dass vieles, was an Ängsten auch geteilt wird und vielleicht zum Teil auch zu recht geteilt wird wegen globalem Terrorismus, der im Namen des Islam verübt wird, also dass vieles dann auf wieder Symbolik projiziert wird beziehungsweise auf den weiblichen Körper. Das wird halt reduziert.
Jetzt haben wir sozusagen den Bösen oder die Böse und diejenige, die dafür verantwortlich gemacht wird. Ich glaube, das hat einfach was damit zu tun, dass der Islam und Muslime einfach noch mal auf eine andere Art im Visier sind von unterschiedlichsten Kräften in dieser Gesellschaft und in diesen Gesellschaften. Die christlichen Praktiken sind eigentlich einverleibt, und deswegen werden sie auch nicht kritisch beäugt oder sehr wenig kritisch beäugt.
Jabs: Und in dem Sinne machen vielleicht dann doch Islamkritiker das Kopftuch wieder zu einem Symbol, oder?
Amir-Moazami: Selbstverständlich. Klar, Islamkritiker … Ist ja auch ein vager Begriff, aber wenn wir jetzt so die säkularen Feministinnen vor Augen haben mit Islamkritikerinnen, die dann für Musliminnen im Allgemeinen sprechen oder zu sprechen vorgeben, diese Stimmen sind einfach extrem häufig gehört im öffentlichen Raum, im medialen Raum. Wenn sozusagen diese sogenannte authentische Stimme von innen heraus das Kopftuch als Symbol bezeichnet, nämlich als Symbol der Unterdrückung der Frau, dann wird das gern gekauft..., und ich finde problematisch an dieser Gewichtung auch, dass eben diejenigen, die das sehr viel komplexer sehen - die Frauen, die bedeckt sind - sehr selten gehört werden in der Öffentlichkeit.
Jabs: Ich habe das vorhin schon gesagt: In der kommenden Woche soll wieder einmal ein Urteil über eine Lehrerin fallen, die mit Kopftuch unterrichten möchte an einer Grundschule. Darüber entscheidet das Landesarbeitsgericht Berlin. Die juristische und die politische Ebene der Kopftuchdebatte bedingen sich wohl zweifellos. Schließlich gibt der Staat den Rahmen für Entscheidungen vor. Inwiefern ist der säkulare deutsche Staat durch religiöse, das heißt natürlich wahrscheinlich vor allem christliche Normen beziehungsweise Wertvorstellungen geprägt?

Wachsende Areligiosität

Amir-Moazami: Das ist auch eine sehr wichtige Frage. Ich glaube, dass schon allein die ganze Genealogie des Säkularen christlich zu verstehen ist, also der ganze Begriff Säkularität kommt aus einem christlichen Repertoire. Das müssen wir, glaube ich, vor Augen halten. Deswegen ist es irgendwie schwierig, auch zu sagen, das ist neutral, weil es ist nicht neutral. Es hat halt eine christliche Bewandtnis und eine christliche Geschichte, und die ist auch eingeschrieben, sogar auch in Rechte.
Das heißt aber nicht, dass es grundsätzlich möglich ist, Rechte auch zu pluralisieren, also auch Grundrechte wie zum Beispiel das Recht auf Religionsfreiheit. Das Problem ist aber, glaube ich, dass wir bei dem Anspruch auf staatliche Neutralität immer dieses Spannungsverhältnis wiederfinden zwischen dem Anspruch auf Neutralität und der Regulierung von Religion, weil notwendigerweise der Staat entscheiden muss, was Religion ist und was nicht Religion ist.
Jabs: Man muss sich ja vergegenwärtigen, dass wir in einem Staat leben, in dem, wenn man Katholiken und Protestanten einzeln nimmt, die größte Gruppe die der Atheisten ist, die Nichtgläubigen mit fast 40 Prozent inzwischen in Deutschland. Wie schwierig erscheint es Ihnen, da noch einmal christliche Symbole zu erlauben und sogar anzubringen, wie jetzt gerade in bayrischen Ämtern, in denen jetzt künftig ein Kreuz hängen soll, andere Religionen aber den Ausdruck ihres Glaubens zu verbieten?
Amir-Moazami: Für mich ist dieser explizite Rückgriff auf das Christentum und christliche Symbole eigentlich auch so eine Art Reflex darauf, dass wir jetzt irgendwie was finden müssen, worauf wir uns einigen können, um unsere deutsche Identität zu definieren, auch angesichts der Tatsache, dass wir eben eine zunehmende religiöse Pluralisierung erleben beziehungsweise auch das, was Sie jetzt gerade genannt haben, nämlich eigentlich auch wachsende Areligiosität.
Ich glaube, das ist auch ein Reflex darauf, dass eine Selbstverständigungsdebatte gibt und dass dann eben Fürsprecher für diese deutschen Werte meinen, sie müssten es christlich konnotieren und das Christentum wieder stärker in die Öffentlichkeit bringen, damit wir sagen können, wir haben eigentlich was, woran wir uns festhalten können, weil diese ganze Wertedebatte ja irgendwie am Ende immer dazu führt, danach zu fragen, was konstituiert uns eigentlich, und wenn wir dann genauer hingucken, ist es ziemlich viel komplexer als auf ein christliches Symbol zu reduzieren, aber wir haben dann eben was in der Hand und sagen, das sind wir. Das ist natürlich auch eine Abgrenzungstechnik.
Jabs: Können Sie sich vorstellen, dass es in Deutschland eine gesellschaftliche Debatte gibt, die dann zu dem Ergebnis kommt, dass es ganz normal ist, ein Kopftuch zu tragen?
Amir-Moazami: Also ich hoffe doch. Im Moment sehe ich eigentlich eher so eine Art Rückschritt in die Anfangsphasen dieser Debatten, und ich wundere mich eigentlich auch so ein bisschen darüber, weil wir haben so viel jetzt über kopftuchtragende Frauen geredet, über sie meistens. Manchmal haben aber auch kopftuchtragende Frauen sich äußern können, und wenn wir genauer hingucken, dann sehen wir, dass es komplexer ist, als das in diesen Schwarzweiß-Debatten üblich ist. Ich glaube, ich habe eine Begründung dafür, warum das so ist, warum wir jetzt doch wieder irgendwie ständig uns auf diese Symbolik kaprizieren.

In Großbritannien ist das Kopftuch selbstverständlicher

Jabs: Welche?
Amir-Moazami: Das hat also einfach tatsächlich eine Funktion, zu zeigen, dass es eben doch einen Konsens gibt darüber vermeintlich über das, was uns konstituiert, und dazu gehören halt bestimmte Praktiken nicht.
Jabs: Und glauben Sie, dass es viel selbstverständlicher werden kann in Deutschland, dass Frauen Kopftücher tragen?
Amir-Moazami: Also wie gesagt, ich hoffe darauf, weil wenn wir in anderen Gesellschaften schauen, sogenannten westlichen Gesellschaften, auch säkularisierten Gesellschaften, dann ist Deutschland – und Frankreich würde ich auch noch dazuzählen – eigentlich eine Ausnahme, also in der Art und Weise, wie in dieser Emotionalität und auch Abgrenzungstechniken darüber gesprochen wird und darüber verhandelt wird, aber wenn wir zum Beispiel Großbritannien uns anschauen, da ist es sehr viel selbstverständlicher. Das heißt nicht, dass es da auch Rassismen gibt, aber es ist auf jeden Fall üblich, dass bedeckte Frauen auch in führenden Positionen sind, und das ist hier einfach noch lange nicht so, dass es sich hier so entwickelt, aber ich hoffe darauf, weil ich glaube, dass es wirklich der Gesellschaft guttun würde, wenn wir da ein bisschen anders mit umgehen würden.
Jabs: Frau Amir-Moazami, vielen Dank für das Gespräch und den Besuch im Studio!
Amir-Moazami: Danke auch!
Jabs: Einschätzungen zur Kopftuchdebatte von Schirin Amir-Moazami, Professorin am Institut für Islamwissenschaft an der FU Berlin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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