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Rumänische Politik wider Volkes Willen

Rumänien gehört wegen seiner klientelistischen Strukturen immer noch zu den Armenhäusern Europas. Als Sieger aus der anstehenden Parlamentswahl wird wahrscheinlich das links-liberale Bündnis USL hervorgehen - doch ändern wird sich dadurch nichts.

Von Annett Müller | 07.12.2012
    Im Gemeindesaal von Dumesti liegt ein süßlicher Geruch. Eine Mischung aus Schafskäse und Milch. Rund 80 Bauern haben sich in dem Raum versammelt. Eigentlich wären sie jetzt in der Mittagspause. Doch ihr Bürgermeister hat sie gerufen. Im Gemeindesaal wird Wahlkampf gemacht.

    An einem Tisch sitzen links und rechts neben dem Bürgermeister die Kandidaten der links-liberalen Union "USL". Das Drei-Parteienbündnis aus Sozialdemokraten, National-Liberalen und Konservativen regiert seit rund einem halben Jahr Rumänien. Mit einem Misstrauensantrag haben sie Ende April die Macht in Bukarest übernommen.

    Am Sonntag entscheiden die Bürger bei der Parlamentswahl nun darüber, ob die USL weiter regieren oder ob das Mitte-Rechts-Bündnis ARD die Macht übernehmen soll. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Dumesti, Constantin Vieru, lässt seinen Bauern erst gar nicht die Wahl:

    "Liebe Leute! Geht zu den anderen Gemeindemitgliedern und erzählt ihnen, dass sich die Einwohner von Dumesti entschieden haben, für die USL zu stimmen. Enttäuscht mich nicht! Es ist vielleicht die letzte Chance für dieses Land, für diese Gemeinde, noch etwas zu bewegen."

    Dumesti im ostrumänischen Kreis Vaslui gehört laut EU-Statistik zu den ärmsten Gegenden Europas. Die Mehrheit der Einwohner verdient hier gerade mal 75 Euro im Monat - die Hälfte des rumänischen Mindestlohnes.

    Es sind die potenziellen Wähler von Doinea Silistru. Die 54-jährige sozialdemokratische Politikerin von der USL kämpft für ein drittes Mandat im Parlament. Den verarmten Bauern und Bäuerinnen im Saal verspricht sie:

    "Wir wollen euch, euch Leuten auf dem Land, eine Chance geben. Ich bin überzeugt, dass wir mithilfe der Landwirtschaft die Dörfer aus ihrer Ausweglosigkeit holen können. Denn wir haben viel Land, das derzeit noch brachliegt."

    Hoffnungslos ist das Leben in Gemeinden wie Dumesti in der Tat. Die Landwirtschaft ist wegen fehlender Investitionen völlig rückständig geblieben und lediglich zur Selbstversorgung da. Wieder bekommen die Wähler - wie schon seit Jahren - zu hören, dass in Zukunft alles besser wird. Doch getan haben die großen Parteien, die alle schon an der Macht waren, für diese Menschen bislang nur sehr wenig. Ein Bauer schüttelt misstrauisch den Kopf:

    "Es ist doch wie immer: Die, die mit unseren Stimmen ins Parlament einziehen, machen es sich auf ihren warmen Sesseln schön bequem. Erst, wenn wieder Wahlen anstehen, erinnern sie sich an uns."

    Laut Umfragen wird die links-liberale Koalition USL am Sonntag vermutlich das Rennen machen. Das Regierungsbündnis schwimmt seit Monaten auf einer stetig größer werdenden Sympathiewelle.

    "Land unter" heißt es hingegen für den politischen Gegner: für die liberal-demokratische PDL, die bis April an der Macht war. Auch sie ist eine Allianz eingegangen, um so auf mehr Stimmen zu kommen. Dem Mitte-Rechts-Bündnis ARD werden in Umfragen allerdings nur bis zu 25 Prozent der Stimmen vorhergesagt. Experten erwarten, dass die PDL bei dieser Wahl für ihr drastisches Sparprogramm abgestraft wird.

    Im Mai 2010 verkündete Staatschef Traian Basescu, der der PDL nahe steht, dass alle Staatsdiener vorläufig auf ein Viertel ihres Gehaltes verzichten müssten. Das bedeutet, dass beispielsweise Lehrer mit einem Durchschnittsgehalt von rund 200 Euro im Monat über die Runden kommen müssen.

    Das führte zu Protesten. Denn es wurden nicht nur die Gehälter gekürzt, sondern auch rund 20 Prozent der über eine Million zählenden Beamten entlassen. Außerdem wurden Rentner mit höheren Bezügen mit Sozialabgaben belegt. Dazu kamen deftige Preiserhöhungen, weil die Mehrwertsteuer von 19 auf 24 Prozent erhöht wurde. Das sorgte für viel Frust.

    "Die Sparmaßnahmen waren 2010 unumgänglich. Unser Fehler aber war - und den haben auch die anderen Parteien schon vor uns gemacht - , dass wir die Sparmaßnahmen zu spät eingeführt haben. Deshalb waren sie so brutal."

    Argumentiert Theodor Paleologu. Der 39-Jährige ist Geschäftsführer der liberal-demokratischen PDL und erneuter Kandidat fürs Parlament. Als Ex-Kulturminister ist Paleologu es gewohnt, vor Menschenmassen zu reden. Derzeit ist der Kreis seiner Anhänger überschaubar.

    Lediglich 20 Sympathisanten sind zu seinem Wahlkampfauftritt in einem Bukarester Neubaublock gekommen. Zwei Stunden lang debattiert Paleologu bei Sandwiches und Keksen über die Wirtschaftskrise und den Antikorruptionskampf. Armand Öveli, ein Unternehmer aus Bukarest, will die PDL auf jeden Fall wieder wählen:

    "Die Partei hat immerhin versucht, die Justiz möglichst unabhängig agieren zu lassen. Das hat keine andere Partei vor ihr gemacht. Keine. Und das ist eine großartige Sache."

    In der Tat: Die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft DNA hat zuletzt immer häufiger ranghohe Politiker ins Visier genommen, darunter auch den sozialdemokratischen Ex-Premier Adrian Nastase, einen der mächtigsten Politiker des Landes. Kaum jemand hatte mit seiner Verurteilung gerechnet. Seit Sommer sitzt er wegen illegaler Parteienfinanzierung im Gefängnis.

    Doch auch die Partei von Kandidat Paleologu ist inzwischen in zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt. Das macht sie unglaubwürdig bei den Wählern. Und nicht nur das: Ein Teil der PDL-Getreuen ist zum politischen Gegner übergelaufen, was schließlich zum vorzeitigen Machtwechsel führte. Eine Rentnerin, die zum Wahlkampfauftritt von Paleologu gekommen ist, zeigt ihre Enttäuschung:

    "Mich überzeugt die PDL nicht mehr. Vor vier Jahren habe ich sie noch gewählt. Aber das geht nun wirklich nicht, dass ein Teil der Mitglieder in die andere Partei überläuft. Die machen sich gegenseitig fertig, statt etwas für das Volk zu tun."

    Über Parteideserteure klagt nicht nur die liberal-demokratische PDL. Das rumänische Parlament ist voll davon. Ein Viertel aller Volksvertreter hat in der letzten Legislaturperiode das Parteibuch ein- oder sogar mehrmals gewechselt. Ein Machtwort gegen diesen Politopportunismus hat bislang keine Partei gesprochen. Im Gegenteil: Wer übergelaufen ist, wird belohnt und darf wieder kandidieren. Historiker Ovidiu Pecican verwundert das nicht:

    "Wenn man in einer rumänischen Partei heutzutage Mitglied ist, dann muss man skrupellos sein. Moral ist nicht gefragt. Viele Politiker haben kein Problem damit, von einer Partei in die andere überzulaufen. Das Einzige, was zählt, ist, Teil des politischen Spiels zu sein und damit reich zu werden."

    Rumänische Politanalysten klagen seit Jahren, dass es den Parteien an programmatischer Substanz fehle. Verwunderlich aber ist das nicht. Die großen Parteien, allen voran die links gerichtete PSD, sind Sammelbecken für die Nomenklatura, für berüchtigte Ex-Geheimdienst-Informanten sowie Medien- und Wirtschaftsoligarchen, die sich durch korrupte Geschäftspraktiken bereichert haben.

    Sie werden von Analysten als machthungrige Cliquen bezeichnet, die sich keiner Ideologie verpflichtet fühlten. Parteien stehen in Rumänien lediglich für Vetternwirtschaft und Seilschaften, die um Ressourcen kämpfen.

    "In ihrer Oppositionszeit haben die Sozialdemokraten eine Menge Wut angestaut. Sie wollten endlich wieder an die Macht zurück. Sie sind sauer, dass sie so lange warten mussten. Wegen der angestauten Frustrationen werden jetzt Leute aus sehr persönlichen Gründen ausgewechselt und nicht, weil es rationale Argumente dafür gibt."

    Sagt der Historiker Dorin Dobrincu. Kurz nach der Regierungsübernahme der USL war er unter fadenscheinigen Gründen als Generaldirektor der Staatsarchive in Bukarest abgesetzt worden. Der parteilose Dobrincu hatte in seiner Amtszeit die verschlossenen Archive der Kommunistischen Partei geöffnet und damit den Zorn der Postkommunisten auf sich gezogen.

    Dobrincus Entlassung wird kein Einzelfall bleiben. Politikexperten gehen davon aus, dass bei einem Wahlsieg der links-liberalen Union über 20.000 Chefposten in Behörden neu besetzt werden - mit der Parteigefolgschaft. Karriere macht - bis auf wenige Ausnahmen - wer das passende Parteibuch hat und die richtigen Beziehungen. Das gilt selbst für Direktorenposten an Schulen und Krankenhäusern. Die Folge: Eine korrupte, inkompetente Staatsverwaltung, die Privatinteressen dient, meint Historiker Ovidiu Pecican:

    "Bei jedem Machtwechsel kommt man mit seiner eigenen Klientel, mit den eigenen Vasallen. Bei uns herrschen noch die Gesetze des Mittelalters. Alles basiert auf Familienclans, denn in die hat man das meiste Vertrauen. Man stiehlt zusammen, man löst zusammen Probleme - immer nur zum eigenen Vorteil. So kann der Staat nicht weitermachen."

    Wegen seiner klientelistischen Strukturen gehört Rumänien immer noch zu den Armenhäusern Europas. Rund 30 Milliarden Euro wurden dem Land in den vergangenen fünf Jahren an EU-Mitteln zur Verfügung gestellt. Rumänien sollte damit wirtschaftlich aufholen. Doch weil in der Verwaltung vorrangig Parteisoldaten statt Fachkräfte arbeiten, wurden nicht einmal zehn Prozent der EU-Mittel abgerufen.

    Das ersehnte Wirtschaftswachstum blieb deshalb aus, die Haushaltslage weiter angespannt. Und dennoch vergibt die Regierung Wahlgeschenke: Rentner sollen schrittweise von den Sozialabgaben wieder entlastet werden; den Beamten will man wieder das volle Gehalt auszahlen. Wirtschaftsexperte Moise Guran stimmt das nachdenklich:

    "Die Frage wird sein, mit welchen Wirtschaftsmaßnahmen die Regierung die Höhe der Beamtengehälter auch nächstes Jahr weiter aufrecht erhalten will. Ich glaube, sie wird große Probleme bekommen, denn die Wirtschaft wird sich auch 2013 nicht erholen."

    Die Opposition - das Mitte-Rechts-Bündnis ARD - verspricht in Wahlspots, wieder Schwung ins Land bringen zu wollen. Parteiangaben zufolge sind zwei Drittel der Kandidaten Neueinsteiger im Parlament. Das Parteienbündnis versucht, sich ein Reformerimage zu geben. Doch die Enttäuschung bei den Wählern sitzt tief.

    Moise Guran glaubt deshalb nicht, dass die ARD das Land aus der Wirtschaftskrise führen könnte. Dem Parteienbündnis fehlten - wie auch seinem politischen Gegner USL - die richtigen Experten.

    "In Rumänien sagt man, wenn man in den Schweinetrog steigt, dann wird man einer von ihnen. Dieses Sprichwort trifft es ganz gut. Die Bevölkerung hasst die Politiker; sie hat keinerlei Vertrauen in sie. Sie sehen sie alle als korrupt an. Jeder Spezialist, der in die Politik geht, riskiert, dass er sich kompromittiert."

    Bewerbermangel bei der Wahl am Sonntag gibt es aber dennoch nicht. Rund 2.500 Kandidaten haben sich aufstellen lassen - auf einen Parlamentsplatz kommen damit fünf Bewerber. Wer in seinem Wahlbezirk mit über 50 Prozent der Stimmen gewinnt, dem ist der Einzug ins Parlament gesichert. Der Rest der Plätze wird durch ein kompliziertes Verteilungsprinzip vergeben.

    Seinen Wahlkampf muss jeder selbst finanzieren. Ausgaben von bis zu 78.000 Euro sind erlaubt. Das kommt in Rumänien einem Vermögen gleich. Viele Kandidaten sind wohlhabende Unternehmer oder werden von einem solchen gesponsert. Nicht aus Wohltätigkeit; der Kandidat wird vielmehr als Vermögensanlage gesehen. Er soll der Unternehmensvertreter im Parlament sein. Adrian Moraru vom Bukarester Institut für öffentliche Politik, IPP, findet das sehr bedenklich:

    "Im Wahlkampf dreht sich alles ums Geld. Die Parteien brauchen finanzkräftige Unterstützer, jemanden, der genügend Geld hat, um die Wahlwerbung zu bezahlen. Nicht alle Leute, die ideenreich und prinzipientreu sind, haben auch Mittel. Sie bleiben automatisch außen vor. Die Partei setzt vielmehr auf Leute, die sie finanziell unterstützen können."

    Morarus Politikinstitut hat kürzlich eine Bilanz der jüngsten Legislaturperiode vorgelegt. Die sozialdemokratische Politikerin Doinea Silistru, die im westrumänischen Vaslui für die USL antritt, wird darin als Positivbeispiel genannt. Sie gehört zu den Top Ten der fleißigsten Parlamentarier.

    "Die Leute fragen mich immer, was ich im Parlament mache. Ich habe Gesetze gemacht. Wenn sie jemand sehen will - sie sind alle öffentlich zugänglich. Ich habe 112 Anträge vorgelegt, 22 davon sind Gesetze geworden, die meisten für die Landwirtschaft."

    Die rund 50 Frauen und Männer, die Silistru gerade umringen, leben in bitterer Armut. Im Dorf gibt es kein Internet, um sich die Gesetze aus dem rund 400 Kilometer entfernten Bukarest anzusehen. Die Menschen hier verlassen sich nicht auf Politiker, sondern auf den Herrgott. Deshalb interessiert sie vor allem ihre Kirche. Eine Frau ruft dazwischen:

    "Es wird bald kalt, dann brauchen wir auch einen Ofen in der Kirche, sonst frieren wir. "

    "Das Ofenproblem wird mit Gottes Hilfe vom Bürgermeister gelöst."

    "Der Bürgermeister lebe hoch! Hoch soll er leben! Hoch, hoch", rufen die Leute.

    Rund 40 Prozent der Rumänen leben auf dem Land. Wer dort überleben will, braucht ein gutes Verhältnis zum Bürgermeister. Denn er teilt die Sozialzuschüsse aus, er bestimmt über das Holz, das die Familien im Winter zum Heizen benötigen. Bürgermeister sind wie "Lokalbarone", was sie für diesen Wahlkampf zu nutzen verstehen:

    "- Bürgermeister: "Hört zu, was ich euch sage! Was wählt ihr?"
    - Leute im Chor: "USL."
    - Bürgermeister: "Und noch einmal: Was also wählt Ihr?"
    - Leute im Chor: "USL.""

    Wie schon 2008 gehen auch diesmal die Parteien - allen voran das links-liberale Bündnis USL - mit dubiosen Kandidaten ins Rennen: mit Ex-Securitate-Mitarbeitern und mit unter Korruptionsverdacht stehenden Politikern. Zwei Kandidaten bewerben sich sogar aus der Haft heraus.

    Fragt man in den Parteigremien nach, warum sie solche Bewerber auf die Wahlliste setzen, kommt oft ein Schulterzucken. Urteilen dürfe nur das Wahlvolk über sie.

    Die Politologin Alina Mungiu-Pippidi glaubt nicht, dass korrupte Kandidaten abgestraft werden. Sie seien zwar anrüchig, aber regional äußert einflussreich. Die Wähler hofften, dass sie von dieser Macht profitieren können, auch wenn sie nicht moralisch sauber ist.

    "Der Grund ist, dass die Wähler extrem arm sind. Sie erfüllen nicht einmal das Hauptkriterium der politischen Moderne: dass sie persönlich autonom sind. Es gibt viele Wähler, die mit unter 100 Euro im Monat auskommen müssen. Bei dieser Summe ist man für jedes Versprechen offen."

    Zwei Regierungswechsel, ein des Plagiats beschuldigter Premier und ein gescheitertes Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten haben Rumänien in diesem Jahr europaweit in die Negativschlagzeilen gebracht. Und es könnte noch ein weiterer Eklat hinzukommen. Präsident Traian Basescu hat bereits damit gedroht, Victor Ponta nicht wieder als Premier zu ernennen, auch wenn die USL die Wahl am Sonntag gewinnen sollte. Die Links-Liberalen reagierten prompt: Dann werde Basescu eben wieder suspendiert. Ans Volk denkt bei diesem Dauerstreit keiner, meint der Politologe Cristian Pirvulescu:

    "Wenn man sich auf einen Premier geeinigt haben wird, wird ein großes Problem bleiben: der Ekel vor der Politik. Und der ist gewaltig groß in Rumänien. Den wird die neu gewählte Regierung deutlich zu spüren bekommen, ganz gleich, wer an die Macht kommt. Dieser Widerwille wird das Regieren enorm schwer machen, wenn nicht sogar unmöglich."
    Rumäniens Präsident Traian Basescu
    Rumäniens Präsident Traian Basescu (picture alliance / dpa / Mihai Barbu)
    Rumäniens Ministerpräsident Victor Ponta
    Neuer Ministerpräsident? Victor Ponta (picture alliance / dpa / Julien Warnand)