Aharon Appelfeld: "Meine Eltern"

Du sollst nicht vergessen!

Cover Aharon Appelfeld: "Meine Eltern"
Mit "Meine Eltern" legt Aharon Appelfeld einen weiteren Band vor, der an die Schrecken der Vergangenheit erinnert. © Rowohlt / imago
Von Marko Martin · 21.11.2017
Der letzte Sommer, bevor das Grauen beginnt: Mit dem Roman "Meine Eltern" legt der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld erneut ein Meisterwerk vor, das die Grenzen der Erinnerungsliteratur überschreitet.
Als Aharon Appelfeld im Jahre 1946 als 14-Jähriger in Haifa aus einem der ankommenden Flüchtlingsboote wankte, hatte er zwar die Shoa überlebt, jedoch nicht allein seine Eltern und die Familie verloren, sondern auch die Sprache. Zuhause, im gutbürgerlichen und säkularisierten Elternhaus in Czernowitz, war deutsch gesprochen worden, die geliebten Großeltern hatten sich auf jiddisch verständigt.
Als Aharon, der damals noch Erwin hieß, acht Jahre alt war, hörte er den Schrei seiner Mutter, bevor sie von rumänischen Faschisten erschossen wurde und er und sein Vater deportiert wurden.
Czernowitz in den 1930er Jahren
Aufgewachsen im bürgerlichen Czernowitz in den 1930er Jahren© imago stock&people
Was er in den darauf folgenden Jahren - in den ukrainischen Wäldern auf der Flucht vor den Deutschen, als Küchenjunge in der Roten Armee, schließlich in einem italienischen Flüchtlingscamp - erlernte, waren außer den bitternötigen Überlebensregeln dann lediglich rüde Fetzen von Sprache: ein wenig ukrainisch, polnisch und russisch, vor allem Jargon.

Aus Nummern wurden namenlose Tote

Nun hat dieser einst Sprachlose, der seit Jahrzehnten in modernem, eleganten hebräisch Weltliteratur schreibt, einen neuen Roman veröffentlicht, der von Mirjam Pressler kongenial ins Deutsch übersetzt worden ist: "Meine Eltern".
Wie die meisten Bücher Appelfelds spielt auch dieses in der Kindheitslandschaft Osteuropas. War bereits im Roman "Zeit der Wunder" das liberal geprägte Elternhaus beschrieben worden, das im autobiografischen Bericht "Geschichte eines Lebens" noch an zusätzlicher Kontur gewann, erzählt dieser jüngste Roman nun die Geschichte von Menschen, die man damals im August 1938 noch "die Sommerfrischler aus der Stadt" nannte, aber auch schon "diese Juden", ehe wenige Jahre später aus Individuen Nummern wurden und aus Nummern namenlose Tote.

Eine Vergegenwärtigung des Davor

"Meine Eltern" ist eine Vergegenwärtigung des Davor, eines Sommers am Ufer des Flusses Prut in Rumänien, als inmitten aller üblichen Sommerfreuden die sogenannte Normalität bereits zu knirschen begann, ohne dass die Protagonisten das Kommende in seiner ganzen Schrecklichkeit erahnt hätten.
Aharon Apelfeld schreibt mit Präzision, ohne expressionistische Effekthascherei oder moralistische Attitüde. "Die Reise des Schreibens gehört nicht zu den leichten Abenteuern", heißt es im Roman, dessen Voraussetzungen der Ich-Erzähler immer wieder reflektiert: "Die Stille ist das Geheimnis jeder Kunst. Adjektive hingegen, von denen wir uns helfen lassen wollen, erweisen sich oft als Schabracken. Worte wie schön oder wunderbar, sind schnell Dekoration und werden fadenscheinig."

Gegen das Vergessen

Umso eindringlicher die Geschichte jenes Sommers ´38, als scheinbar kleine Alltagswidrigkeiten das kommende Verhängnis ankündigen, die Familie schließlich vorzeitig abreist und der Ich-Erzähler sich noch Jahrzehnte später an die zornigen, hasserfüllten Augen des bäuerischen Kutschers erinnert. Zurück in Czernowitz, beginnt das Kind etwas zu ahnen, doch die Mutter nimmt es in den Arm und verbreitet Hoffnungsvolles: "Der Krieg ist noch weit weg. Und heute Abend werde ich ein Essen kochen, an das sich alle noch lange erinnern werden."
Aharon Appelfeld ist mit diesem konzisen Buch erneut die Balance geglückt aus psychologischer Feinzeichnung und einem poetischen Realismus voller Widerhaken. Ein Roman gegen das Vergessen.

Aharon Appelfeld: "Meine Eltern"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017
272 Seiten, 22,95 Euro