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Runder Tisch gegen Missbrauch ist "ein hilfloser Versuch"

Ursula Enders kritisiert, dass zum geplanten Runden Tisch gegen Kindesmissbrauch keine Opferorganisation eingeladen ist und warnt: Missbrauch sei nicht auf kirchliche Institutionen beschränkt.

15.03.2010
    Stefan Heinlein: Auch an diesem Wochenende neue Berichte, neue Enthüllungen über den sexuellen Missbrauch von Kindern. Oft zehn, 20, 30 Jahre nach der Tat melden sich die Opfer zu Wort und erzählen über das erlebte. Ein Tabu scheint gebrochen. Mit Runden Tischen will die Politik nun dazu beitragen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Auch die Kirche scheint bereit, offener als bisher ihren Beitrag zur Aufklärung der Fälle zu leisten. Viele warnen jedoch davor, allein mit dem Finger auf die katholische Kirche und die Rolle des Papstes in der Vergangenheit zu zeigen. Sexueller Missbrauch von Kindern ist traurige Gegenwart überall in unserer Gesellschaft, und darüber möchte ich jetzt reden mit Ursula Enders. Sie ist Leiterin und Gründerin von "Zartbitter", einer Beratungsstelle für die Opfer sexuellen Missbrauchs. Guten Morgen, Frau Enders.

    Ursula Enders: Guten Morgen!

    Heinlein: Sie beschäftigen sich seit vielen, vielen Jahren mit dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Wie erleben Sie die aktuelle Debatte über dieses Thema?

    Enders: Ja, das ist eine Flut von Fakten, die bekannt wird, die eigentlich uns schon lange bekannt sind. Es ist eine Diskussion, die längst überfällig ist.

    Heinlein: Odenwaldschule, Canisius, St. Blasien, wussten Sie schon seit Langem, dass es dort sexuellen Missbrauch gibt?

    Enders: Uns waren mehrere dieser Fälle bekannt. Inzwischen werden weitere bekannt, die wir natürlich noch nicht wussten. Weil "Zartbitter" eine der wenigen Stellen in Deutschland ist, die speziell zum Thema Missbrauch in Institutionen arbeitet, haben uns auch in den vergangenen Jahren immer schon wieder Betroffene auch von jetzt benannten Einrichtungen angerufen.

    Heinlein: Ist es aus Ihrer Sicht positiv, dass nun in einer breiten Öffentlichkeit über dieses Thema gesprochen wird?

    Enders: Es ist positiv, dass endlich das öffentliche Bewusstsein dafür geschaffen wird. Gleichzeitig glaube ich, dass die Form der Debatte sehr einseitig ist. Es richtet sich einseitig gegen die Kirche, die natürlich eine Aufarbeitung zu leisten hat. Missbrauch kommt auch in anderen Bereichen der Institutionen vor. Und zum anderen ist es so, dass es für viele Betroffene eine sehr belastende Zeit ist, denn neben der Befreiung, dass Dinge genannt werden und anerkannt werden, werden auch viele alte Erinnerungen wach gerufen, und das ist natürlich eine große Belastung.

    Heinlein: Wie kann man den Opfern dieser sexuellen Gewalt helfen in dieser Debatte?

    Enders: Ich denke zunächst einmal, dass sie sachlicher geführt wird und dass keine Nebenschauplätze weitergeführt werden. Zum Beispiel ist das Zölibat sicherlich nicht die Ursache des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Es ist ein Punkt, der sie anfälliger macht. Ursächlicher ist sicherlich mehr noch die kirchliche Struktur, die sehr hierarchisch ist und deshalb ein sehr geschlossenes System ist, und zum anderen die Sexualfeindlichkeit. Solche geschlossenen Systeme haben wir aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel im Bereich Schule, weil dort gerade beamtete Lehrer kaum des Missbrauchs bezichtigt werden können, und wir haben es zum Beispiel auch in großen Sportvereinen.

    Heinlein: Muss also ganz offen geredet werden, Frau Enders, auch über den möglichen Missbrauch von Kindern in Sportvereinen, in Jugendfreizeiten oder auch in der Jugendhilfe?

    Enders: Auch in der Jugendhilfe! Es ist im Augenblick so für uns, dass es leichter ist, einen gewalttätigen und übergriffigen Geistlichen aus der Kirche zu bekommen als einen gewalttätigen oder übergriffigen Lehrer aus der Schule. Und wir dürfen einen anderen Bereich auch nicht vergessen: Das sind die kommerziellen Angebote für Mädchen und Jungen wie Ballettschulen, Musikschulen, kommerzielle Ferienfreizeiten und Reitställe.

    Heinlein: Läuft die Diskussion also schief aus Ihrer Sicht, weil derzeit ja in erster Linie geredet wird über Fälle, die zehn, 20 oder 30 Jahre her sind?

    Enders: Wir glauben, dass die Art und Weise, wie die Diskussion jetzt geführt wird, zu einer weiteren Tabuisierung des Missbrauchs in anderen Bereichen führt. Das heißt, diese Bereiche werden komplett ausgeblendet, und die Diskussion muss dringend erweitert werden.

    Heinlein: Was versprechen Sie sich vor diesem Hintergrund von den geplanten Runden Tischen, die ja die Bundesregierung einführen will?

    Enders: Ja, dort sind die Opferorganisationen noch nicht mal eingeladen! Man hat namhafte Persönlichkeiten eingeladen, bischöfliche und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, und die, die seit Jahren mit der Problematik arbeiten – und das sind wenige in Deutschland, die hier eine besondere Expertise haben -, sitzen nicht am Tisch.

    Heinlein: Ist das also aus Ihrer Sicht ein verfehlter Versuch der Politik, auf diese Enthüllungen zu reagieren?

    Enders: Es ist ein hilfloser Versuch und wir hoffen einfach, dass danach mehr Sachlichkeit kommt.

    Heinlein: Mehr Sachlichkeit. - Ist vielleicht eine Möglichkeit – die wird ja auch diskutiert - die Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Aufklärung der zurückliegenden Missbrauchsfälle.

    Enders: Die wünschen wir uns und vor allen Dingen brauchen wir auch eine unabhängige Stelle, die auch die Missbrauchsfälle in anderen Bereichen aufarbeitet.

    Heinlein: Sollten die Verjährungsfristen bei Missbrauch verändert werden? Hilft dies den Opfern?

    Enders: Den zurückliegenden Fällen hilft es überhaupt nicht, den Betroffenen, weil quasi man zurückblickend das Gesetz nicht ändern kann. Wofür man sorgen kann, ist, dass sie trotzdem Entschädigung bekommen, und ich glaube, davor hat die Politik auch große Angst. Den aktuellen Opfern hilft es nicht viel, wenn sie wissen, dass sie in 30 Jahren noch praktisch einen Täter anzeigen können. Gut, man sollte die Verjährungsfrist aufheben, um damit das Leid anzuerkennen, aber das ist keine Lösung für die aktuellen Fälle. Die betroffenen Kinder brauchen Hilfe jetzt.

    Heinlein: Wie groß ist denn die Gefahr – auch damit haben Sie, Frau Enders, wahrscheinlich Erfahrung -, dass jemand unschuldig nun in Verdacht gerät in dieser aufgeregten Diskussion, gerade wenn die Dinge so lange zurückliegen?

    Enders: Genau deshalb sollten hier unabhängige Kommissionen eingesetzt werden, denn es ist sicherlich so, dass einige wenige die Gelegenheit nutzen, um auch Unterstellungen auszusprechen. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber dennoch können wir davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrzahl wirklich Fakten berichtet, und es ist natürlich so, dass über einen Zeitraum von vielen Jahren Erinnerungen sich häufig verzerren. Aber der Schmerz bleibt der gleiche und es kommt auch nicht darauf an, ob vor 30, 40 Jahren ein Kind 10- oder 20mal missbraucht worden ist. Jeder Missbrauch an einem Kind ist zu viel.

    Heinlein: Also insgesamt, Frau Enders, es ist gut und wichtig, dass nun über die Vergangenheit geredet wird, aber genauso wichtig ist die Gegenwart und die Zukunft?

    Enders: Ja, genau. Man darf nicht über die alten Fälle die aktuellen vergessen. Und viele der Betroffenen, die heute über alte Erlebnisse sprechen, sprechen nicht nur, um sich zu befreien, sondern sie wollen auch einen Beitrag dazu leisten, dass in Zukunft Mädchen und Jungen diese Form der Gewalt nicht mehr zugefügt wird.

    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Ursula Enders, Leiterin und Gründerin von "Zartbitter", einer Beratungsstelle für Opfer von sexuellem Missbrauch. Ich danke, Frau Enders, für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Enders: Auf Wiederhören.

    Zartbitter e.V. gegen sexuellen Missbrauch