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Rundfunk aus der Psychiatrie

Eine der größten Nervenheilanstalten Argentiniens, das Hospital Borda in Buenos Aires, ist eine völlig veraltete Einrichtung, in der die rund 1.100 Patienten eher kaserniert als betreut werden. Eine private Initiative versucht seit 14 Jahren das Leben der Patienten zu erleichtern - mit Hilfe des Radios. Aus der argentinischen Hauptstadt berichtet Peter B. Schumann.

24.09.2005
    "Hier sendet Radio La Colifata direkt aus dem Hospital Borda."

    "Ich bin in der Irrenanstalt und möchte raus und die Menschen bitten, meinen Brüdern zu helfen, denn sie brauchen Zuneigung, aber auch Nahrung."

    So beginnt jeden Samstag um 14.30 Uhr in Buenos Aires ein fünfstündiges Rundfunkprogramm unter freiem Himmel. Im Garten der psychiatrischen Anstalt haben sich 50 oder 60 Männer und ein paar Frauen zusammengefunden und hören zu, was da vor ihnen an einem großen Tisch produziert und gesendet wird.

    Gerade stellt Miguel Angel, einer der Moderatoren des Programms, zusammen mit seiner Kollegin Silvia die heutigen Teilnehmer vor. Sie alle sind Patienten des Hospitals Borda, eine der größten Nervenheilanstalten Argentiniens. "Ich war 14 Jahre lang in diesem Hospital untergebracht", berichtet Miguel Angel:

    "Als 19-Jähriger wurde ich zusammen mit tausenden von völlig unerfahrenen und kaum ausgebildeten Rekruten auf die Malwinen-Inseln zum Krieg gegen England geschickt. Traumatisiert kam ich zurück und wurde dann hier eingewiesen. Dank des Radios konnte ich vor acht Jahren entlassen werden und benötige nur noch eine ambulante Behandlung. Das Radio diente mir als Kommunikationsmittel mit dem anderen Teil der Welt jenseits der Mauer."

    An diesem Samstagnachmittag ist es etwas kühl im Garten des Hospitals Borda. Aber das beeinträchtigt die Stimmung nur wenig: viele der Anwesenden trinken aus ständig umherkreisenden Bechern heißen Mate-Tee. Heute wird das Programm allerdings nur aufgezeichnet, denn der kleine Sender musste repariert werden.

    Musik ist ein wesentlicher Bestandteil von La Colifata, dem Radio des 'liebenswerten Verrückten' – wie der Name aus dem Jargon von Buenos Aires übersetzt heißt. Rund zwei Dutzend einzelne Beiträge werden jede Woche gesendet: Gedichte, Alltagsberichte, Sportnachrichten, Lieder, humoristische Einlagen, Horoskope und sogar manche politische Einschätzung – verfasst von Menschen, die von der Gesellschaft oft marginalisiert werden, weil sie psychisch gestört oder geistig behindert sind. "Es ist ein therapeutisches Radio", sagt Miguel Angel, der es vor 14 Jahren mitbegründet hat.

    "Es hilft den Personen mit psychischen Schwierigkeiten und besonders all jenen, die sich einsam fühlen, die sonst niemanden haben, der sich um sie kümmert... Es lenkt sie davon ab, an Dummheiten zu denken, es unterhält sie und heitert sie auf."

    Miguelito Sumaamiga hat den Reporter mit dem Mikrofon entdeckt. Er erzählt sofort seine Lebensgeschichte in Versen, denn er ist sozusagen der Hauspoet von La Colifata. Seit zahn Jahren ist der heute 65-Jährige hier, und er träumt von einer guten Frau, einem Dach über dem Kopf und dem alten Lastwagen, den man ihm einst weggenommen hat. Und dann beschwert er sich – ganz prosaisch – über den Fraß, den sie täglich in der Anstalt erhielten.
    Inzwischen läuft in La Colifata ein Beitrag über das Thema Gesundheit:

    "Gesund ist es, weiter zu wachsen, sprechen und fühlen können. Gesundheit haben wir nicht, man muss nur auf die Welt schauen. Gesundheit ist die Gabe, sich selbst zu finden. Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sie ist die Würde des Menschen. Gesundheit für mich: je mehr ich ein liebenswerter Verrückter bin, desto gesunder fühle ich mich."

    Das Mikrofon wandert unter den Zuhörern umher. Zum ersten Mal meldet sich Jorge zu Wort:

    "Ich freue mich, so viele Leute hier zu sehen und eine Gruppe von Menschen, die uns helfen wollen, damit wir weitermachen und uns nicht aufgeben. Das Radio ist eine wunderbare Einrichtung: es hilft uns, neue Leute kennen zu lernen und unsere Ideen zu verbreiten, denn wir haben keine Zeitungen, kein anderes Radio, nichts."

    Alberto Olivera, der Gründer und Leiter von La Colifata, mischt sich ein und bittet Jorge, wann immer er möchte, seine Meinung über einzelne Beiträge zu sagen. Und da kommt noch der reparierte Sender zurück. "Das Hospital Borda beherbergt rund 1.100 Patienten, von denen mehr als die Hälfte länger als zehn Jahre hier sind", berichtet Alberto Olivera:

    "Ihre Aussicht auf Entlassung ist gering, denn ihre Beziehungen nach draußen sind kaum noch existent. Und die Kunstwerkstätten, die hier ursprünglich jeden Samstag angeboten wurden, hatten keine bleibende Wirkung nach außen. Also habe ich 1991 einer Gruppe von Patienten die Möglichkeit angeboten, bestimmte Gespräche aufzuzeichnen und sie über einen kleinen UKW-Sender zu verbreiten, damit sie auf diese Weise in Kontakt mit der Gesellschaft treten konnten."

    Es war ein mühsamer Weg für die Gruppe von vier Psychologen, einem Musiktherapeuten, einem Sozialarbeiter und zwei Journalisten. Sie arbeiten bis heute freiwillig und unentgeltlich an diesem Projekt, das von Spenden lebt. Denn offizielle Unterstützung erhalten sie kaum. Und auch von der Anstaltsleitung werden sie eher geduldet als gefördert. Dabei wird Radio aus der Psychiatrie längst in anderen Ländern Lateinamerikas erprobt. Und eine Auswahl der wöchentlichen Programme verbreiten inzwischen rund 30 lokale Radiosender in ganz Argentinien.

    "Ich habe heute einen Familienangehörigen hier besucht", sagt ein Mann Anfang sechzig, der von La Colifata auf diese Weise erstmals erfahren hat. "Und ich bin fasziniert, wie die Patienten ohne jede Zensur ihre Gedanken äußern können: ein Ausdruck menschlicher Freiheit."

    "Wir sind sehr erfolgreich", sagt Alfredo Olivera, der Leiter:

    "In den letzten drei Jahren konnten 35 Prozent der Patienten entlassen werden, die wir von La Colifata therapeutisch behandeln. Und keiner der Entlassenen, die wir später ambulant betreuen, musste wieder eingeliefert werden."

    Eine kleine privat organisierte Insel in einem ständig kollabierenden, öffentlichen Gesundheitswesen stellt La Colifata dar: der erste Modellversuch in Lateinamerika, mit Hilfe des Radios die Mauer des Schweigens zu überwinden, die die Gesellschaft um psychisch kranke Menschen errichtet hat.