Vom Umgang mit dem Wandel

Was ein Löffel uns über Veränderung lehren kann

Gabeln und Löffel zusammengeschnürt auf einem Holztisch
Florian Goldberg klebt bis heute an dem Löffel aus seiner Kindheit © Imago / Westend61
Von Florian Goldberg · 27.09.2017
Der Autor Florian Goldberg hat bis heute einen Lieblingslöffel - er nennt ihn den "Urlöffel" - der ihn durch sein Leben begleitet. Er rettete ihn, als seine Eltern das alte Besteck entsorgten, weil sie sich ein neues gekauft hatten - doch er hatte keine Lust auf diese Veränderung.
In meinem Besteck-Kasten liegt ein alter Löffel, ein unauffälliges Ding aus mattem rostfreiem Stahl. Keiner meiner Gäste hat ihn je eines besonderen Blickes gewürdigt. Dabei ist es nicht irgendein Löffel. Es ist der Löffel. Der Urlöffel sozusagen. Na ja, vielleicht nicht schlechthin. Aber meiner.
Als ich klein war, gehörte er zu der bescheidenen Ausstattung meiner noch jungen Eltern. Mit ihm und seinen ebenso schlichten Geschwistern habe ich nicht nur gelernt, selbständig zu essen. Mit ihm habe ich gelernt, "Löffel" zu sagen!
Als meine Eltern zu etwas mehr Geld kamen und sich neben einem Porzellanservice auch elegantes Silberbesteck leisteten, brach eine Welt zusammen. Diese abscheulichen neuen Dinger erfüllten vielleicht dieselbe Funktion, aber sie waren definitiv keine echten und wahren Löffel mehr. Ich hasste sie. Bevor das alte Besteck entsorgt wurde, sicherte ich mir ein letztes Exemplar, um es trotzig weiter zu nutzen.

Wir haben alle unseren 'Urlöffel'

Das wäre nur eine drollige Anekdote, beschriebe sie nicht ein Phänomen, das über die bloße Kindermarotte hinausreicht: Der Wunsch nach Beständigkeit und die mitunter heftige Abneigung gegen Veränderungen aller Art.
Im übertragenen Sinne haben wir alle unsere Urlöffel. Irgendwann ungefragt in die Welt geworfen, sind wir gezwungen, uns darin zu orientieren. Was liegt näher, als uns zunächst an das zu halten, was wir unmittelbar vorfinden? Dieser Löffel war als erster da. Er war mit leckerem Brei gefüllt und fand wie von allein den Weg in meinen Mund. Also muss ein Löffel genau so sein. So und nicht anders! Ihn plötzlich wieder hergeben zu sollen, erscheint wie die Forderung, den Löffel insgesamt abzugeben. Das kann schon mal zu hysterischen Protesten führen. Oder dem Versuch, den anderen ihre Löffel gewaltsam zu entwenden, um den eigenen als Maß aller Dinge durchzusetzen.
Aus der Not, mit dieser menschlichen Disposition, sprich: uns selbst, umzugehen, haben sich zwei grundsätzliche Haltungen entwickelt. Vereinfacht gesagt: die konservative und die liberale.
Die Konservative betrachtet den Menschen als egoistischen kleinen Lümmel, dem man nicht zu viel Raum geben darf. Damit schön Ruhe ist im Karton, sollte gleichzeitig dafür gesorgt sein, dass alle von Beginn an dieselben Urlöffel in Form von Sitten, Traditionen und Institutionen in die Münder geschoben bekommen. Das funktioniert natürlich nur, solange der Karton möglichst geschlossen bleibt und nicht ständig wieder für fremde Lümmel mit ihren obszönen Schöpfkellen geöffnet wird.

Das "Ursprüngliche" ist zufällig

Auch der liberalen Betrachtung bleiben die nervtötenden Aspekte unserer Natur nicht verborgen. Aber sie geht von der individuellen Erkenntnis- und Entwicklungsfähigkeit aus, die am Ende den Unterschied macht: Egal, welcher Löffel sich mir als Erstes eingeprägt hat, kann ich doch irgendwann seine Zufälligkeit einsehen. Dies wiederum erlaubt mir, mich mit anderen auf ein Essbesteck zu einigen, das seinen Zweck auf die jeweils beste Weise erfüllt. Mit anderen Worten: Obwohl in Oberbayern geboren, kann sich mir die Schönheit von Essstäbchen erschließen!
Welcher dieser beiden Haltungen ich in welcher Weise zuneige, hängt vermutlich weniger von meinen Erfahrungen mit anderen Menschen ab, als vielmehr vom Umgang, den ich mit mir selbst pflege. Die Welt schaut düster aus, wenn ich auf Ängste und Ressentiments beharre. Sie erscheint freundlicher, wenn ich mich anschicke, mein inneres Erleben über die unmittelbaren Prägungen hinaus zu erweitern.
Übrigens, mein Urlöffel: Als gestern meine Mutter zu Besuch war, holte ich ihn hervor und hielt ihn ihr in wortloser Erwartung hin. Sie schaute etwas verwundert. "Ein Löffel", sagte sie, "und?" - Um ihr auf die Sprünge zu helfen, erzählte ich kurz die Geschichte. "Interessant", erwiderte sie, "aber, nein, unser erstes Besteck sah ganz anders aus. Dieses Ding dort habe ich nie gesehen. Weiß der Himmel, wo du das her hast."

Florian Goldberg hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht. Für Deutschlandradio Kultur hat er zahlreiche politische Feuilletons verfasst.

Der Autor, Coach und philosophische Berater Florian Goldberg.
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