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Russische Revolution
Die Erinnerungskultur in Zehn-Jahres-Schritten

Eine Weltgeschichte der Russischen Revolution versprechen die Herausgeber des Sammelbandes "100 Jahre Roter Oktober". Jan Claas Behrends und andere lassen darin erläutern, wie sich die Bedeutung der Oktoberrevolution im Laufe der Zeit verändert hat.

Von Gesine Dornblüth | 21.08.2017
    Russische Kommunisten marschieren zum 95. Jahrestag der Oktoberrevolution in Moskau.
    Russische Kommunisten marschieren zum 95. Jahrestag der Oktoberrevolution in Moskau. (imago / Russian Look)
    Das Buch ist keine weitere "Geschichte der Russischen Revolution", davon gibt es wahrhaftig genug. Die Autoren - elf Historiker aus sechs Ländern - versuchen stattdessen herauszufinden, wie sich die Bedeutung der Oktoberrevolution im Laufe des Jahrhunderts verändert hat. Sie konzentrieren sich dabei auf die runden Jubiläen im Abstand von jeweils zehn Jahren:
    "Im Vertrauen auf die Magie der runden Zahl ragten die Zehn-Jahres-Jubiläen aus der Erinnerungsarbeit hervor: Immer wieder neu musste der Rückblick auf den charismatischen Anfang herhalten, um den Stolz auf das Erreichte zu wecken und sich von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges gegen alle Widerstände zu überzeugen."
    so die Herausgeber in ihrem Vorwort.
    1917 aus der Sicht der Zeitzeugen
    Den Anfang macht Dietrich Beyrau, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Tübingen. Er trägt die Sicht der intellektuellen Zeitzeugen 1917 zusammen. Russische Dichter sahen die Apokalypse aufziehen, beklagten eine "Herrschaft des Pöbels", beschrieben Hunger und Gewalt. Viele von ihnen emigrierten später.
    Diesen russischen Reaktionen stellt Beyrau europäische gegenüber. Besonders in Teilen Deutschlands stieß Lenins Umsturz auf Zustimmung, selbst unter Konservativen. Wie konnte das kommen?
    "Das Russlandbild der Intellektuellen im deutschsprachigen Raum war geprägt von den moralischen Exzessen und Abgründen der Romanfiguren Dostojewskis und Tolstois und ihrem antiwestlichen und antimodernen Denken. Die deutsche Öffentlichkeit war fasziniert von der Gleichzeitigkeit von äußerer Knechtschaft, innerer Freiheit und dem Hang zum Absoluten. [...] Die Bolschewiki zeigten einen Weg, der es ermöglichte, aus der verhassten internationalen Ordnung der Siegermächte auszubrechen."
    Die Oktoberrevolution war kein Massenereignis, am Umsturz selbst waren verhältnismäßig wenige Menschen beteiligt. Deshalb versuchte die Sowjetmacht in den folgenden Jahrzehnten, Erinnerung zu personalisieren.
    Memoiren und Revolutionsartefakte
    1927, so der US-Amerikaner Frederick Corney in seinem Beitrag zum 10. Jubiläum der Oktoberrevolution, gab es in allen Teilen der Sowjetunion Erinnerungsabende:
    "Den Organisatoren der Gedenkfeierlichkeiten des Jahres 1927 kam es ganz eindeutig auf die konkreten Details des Oktober-Narrativs an. [...] Dieses Narrativ durfte sich freilich nicht auf die beiden Hauptstädte Leningrad und Moskau beschränken, sondern musste die gesamte Sowjetunion umfassen, weshalb jede Region dazu ermuntert wurde, ihren eigenen 'Roten Oktober' zu dokumentieren und über die Revolution vor Ort zu schreiben und zu publizieren. Die aus diesen Anlässen produzierten Artefakte wurden in über ganz Sowjetrussland verteilten Museen der Oktoberrevolution gesammelt und ausgestellt."
    Eine Tradition, die lange erhalten blieb. Bis heute findet man in russischen Haushalten kuriose, zu den Jahrestagen produzierte Erinnerungsgegenstände, wie zum Beispiel einen kleinen Tischventilator mit der Aufschrift "60 Jahre Großer Oktober".
    Der große Terror
    Völlig anders war das Revolutionsgedenken 1937, das der Spanier José Faraldo minutiös rekonstruiert. 1937 war das "Jahr des großen Terrors". Bis zum darauffolgenden Herbst ließ Stalin mehr als 700.000 Menschen ermorden. Zugleich rühmte sich die Sowjetunion ihrer industriellen Erfolge und präsentierte die auch bei der Revolutionsparade.
    "Die Repression und deren Agenten waren immer in der Nähe. Auf diese Weise bildeten die beiden Pole, die seit diesem Zeitpunkt die UdSSR entscheidend prägen sollten, nämlich Repression und Modernisierung, Terror und Traum, ausdrücklich einen Bestandteil der Feierlichkeiten."
    Der Staatsterror gegen Millionen Menschen, die finsterste Folge der Oktoberrevolution, ist in Russland bis heute nicht aufgearbeitet. Die russische Historikerin Irina Scherbakowa schildert in ihrem Aufsatz zum 80. Jahrestag, wie solche Ansätze in den 90er Jahren scheiterten. Nach dem Ende der Sowjetunion schaffte Boris Jelzin, erster Präsident des unabhängigen Russlands, die Revolutionsparade ab und öffnete die Archive. Damit war es erstmals möglich, die bis dahin nur privaten Erinnerungen an den Terror mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern:
    "Diese Quellen belegten nun anschaulich, dass die Bolschewiki durch einen Umsturz an die Macht gekommen waren, dass sie den Terror gezielt in Gang gesetzt hatten und dass die ungeteilte Verantwortung für die Massenverfolgungen eindeutig bei der kommunistischen Partei lag."
    Ein deshalb eingeleitetes Verfahren gegen die kommunistische Partei endete ergebnislos - für Scherbakowa ein Verweis darauf,
    "...dass sich zwischen dem Wissen über die sowjetische Vergangenheit, das die Historiker mühsam Schritt für Schritt zusammentrugen, und der Einstellung, die in den breiten Schichten der russischen Bevölkerung über die UdSSR vorherrschte, [...] eine immer tiefere Kluft auftat. Russland erreichte in diesen Jahren keinen antikommunistischen oder wenigstens antitotalitären Konsens in seiner Gesellschaft."
    Ein Porträt von Lenin in einem russischen Hotel.
    Ein Porträt von Lenin in einem russischen Hotel. (imago stock&people)
    In der Folge wird die Sowjetnostalgie in Russland heute immer stärker. Es ist die Sehnsucht nach den 70er-Jahren, als die Propaganda zwar den revolutionären Aufbruch von 1917 feierte, das Land selbst aber stagnierte.
    Russland 100 Jahre nach der Oktoberrevolution
    Präsident Wladimir Putin steht vor dem Problem, dass er den hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution zwar nicht ignorieren kann, Revolutionen aber per se für schlecht hält, wie jeder Autokrat. Putin schätzt den letzten Zaren ebenso wie Stalin. Bei den Feierlichkeiten im Herbst wird nun der Gedanke der "Einheit" im Vordergrund stehen. Hätte das Volk vor 1917 geeint zusammengestanden, so die Botschaft, hätte das Chaos des Bürgerkrieges vermieden werden können.
    Die Details der Gedenkfeierlichkeiten waren bei Erscheinen des Buches noch nicht bekannt, dennoch trifft der deutsche Historiker Jan Plamper im letzten Kapitel den Kern dieser Putin'schen Gedenkpolitik:
    "Wenn es ein Leitmotiv gibt, das sich durch die Vielstimmigkeit, ja Kakophonie der offiziellen Putin'schen Geschichtserinnerung zieht, dann ist es das der 'Staatlichkeit' - gossudarstvennost. Gemeint ist damit der Glaube an den intrinsischen Wert eines starken Staates. [...] Der starke Staat als Wert an sich verträgt sich freilich schlecht mit der Zerstörung von Staatlichkeit in den beiden Revolutionen von 1917. Folglich muss das Diskontinuierliche - der Bruch, die Zäsur - heruntergespielt und die Bildung eines neuen starken Staates, und zwar des sowjetischen herausgestrichen werden."
    Alles in allem ergibt sich eine abwechslungsreiche Lektüre. An einigen Stellen liest sich das Buch allerdings etwas trocken. Seinem Untertitel "Weltgeschichte" wird das Buch nicht gerecht. Meist geht es eben doch vorrangig um Russland und die Sowjetunion. Deren Geschichte wird jedoch in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit gut und tiefgehend abgebildet.
    Jan Claas Behrends, Nikolaus Katzer, Thomas Lindenberger (Hrsg.):
    100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution.
    Ch. Links Verlag. 352 Seiten, 25,00 Euro.