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Russische Robinsonade

Mit 27 hat Wassili Golowanow eigentlich schon alles hinter sich – seine Ehe ist gescheitert, die glanzvoll begonnene Schriftsteller- und Journalistenkarriere fühlt sich zunehmend schal an. Er trinkt zu viel. Was er schreibt, erscheint ihm irgendwie greisenhaft. Da ergreift ein Traum von ihm Besitz – der Traum, alldem zu entfliehen, dem Moskauer Großstadtgetriebe und sich selbst obendrein.

Von Brigitte van Kann | 17.01.2013
    Als der Zufall den jungen Autor dann auf die Solowetzker Inseln verschlägt, ein Archipel im Weißen Meer – einst von Mönchen bewohnt, dann als Straflager missbraucht – weiß er, wohin seine Flucht, wohin die Reise gehen soll – in den Hohen Norden Russlands, in die Tundra jenseits des Polarkreises. Und es muss unbedingt eine Insel sein, und zwar so abgeschieden und geheimnisvoll, wie Menschen, die in ihrer Jugend die "Schatzinsel", "Robinson Crusoe" und die "Odyssee" verschlungen haben, sich "ihre" Insel vorstellen.

    In der Barentssee wird Wassili Golowanow fündig: Kolgujew, 3200 Quadratkilometer, beinahe rund, flach, im kurzen Polarsommer sogar grün, mit ein paar Seen, Hügeln und Flüsschen, früher von Rentierzüchtern bewohnt, die als Nomaden mit ihren Tieren umherzogen und Fleisch und Felle an russische und norwegische Händler verkauften.

    Jahrelang liegt Golowanow Freunden und Kollegen mit seinem Insel-Reisetraum in den Ohren – aber so kurz nach dem Ende der Sowjetunion haben sie andere Sorgen, andere Themen: Sie fragen nach der journalistischen Verwertbarkeit einer solchen Unternehmung und überhaupt – was soll man auf einer öden Insel – während das auseinanderbrechende Imperium jeden Tag neue Schrecken und neue Möglichkeiten bietet. Bis sich schließlich eine Kollegin über den verhinderten Inselreisenden lustig macht – er rede immer nur von seiner Insel, hinfahren würde er ja doch nicht.

    Da gingen bei mir die Lichter an. ... Ich kaufte eine Bahnkarte und fuhr los. Alleine. Ohne jede Vorbereitung – was natürlich nicht folgenlos blieb. So hatte ich gemahlenen Alvorada-Kaffee dabei, ein deutsches Produkt, viel zu stark gebrannt, ungenießbar, reinster Dreck, dazu Gitanes ohne Filter – insofern war ich nicht schlechter ausgerüstet als der Superman aus der Camelreklame. Aber meine Winterjacke hatte ich dafür zu Hause gelassen, weil ich glaubte, mit einem Rollkragenpullover und der Regenjacke auszukommen ...

    Klar, all das war dumm, aber ich spürte, dass ... Dass ich mich später vielleicht nicht mehr würde entschließen können und auf immer und ewig ein hochqualifizierter Fortschrittskritiker bliebe. Dass ich meine Reise nie machen und nie mein Wort sagen würde, ja nicht einmal erführe, welches es wäre ...


    Hier hat ein junger Schriftsteller nicht einfach nur einen modischen Burnout, hier ist jemand in einem anderen Sinne "reif für die Insel" – Wassili Golowanow sucht mehr als Erholung oder Abwechslung vom Alltag, er sucht Inspiration und Material für ein großes Werk und er hofft auf die innere Kraft, die aus Kontemplation und außergewöhnlichem Erleben erwachsen kann. Es geht ihm um die Wahrnehmung der Welt und darum, wie man sie in Worte fassen kann.

    Die erste Begegnung mit dem grenzenlosen Raum des Nordens ist dann so überwältigend, dass es dem Schriftsteller erst einmal die Sprache verschlägt. Insgesamt drei Mal reist er auf seine Insel, ehe er wirklich über sie und über sich zu schreiben beginnt:

    Solange wir längs der Küste gelaufen waren, hatte der Müll verraten, dass es um uns her, wenn auch weit weg, eine Welt voller Menschen gab. In der Tundra bot sich die gegenteilige Empfindung: nirgends ein Mensch. Nur die Erde ringsumher, unberührt wie am siebenten Tag der Schöpfung. ... Und diese unberührte Schönheit und Weite fließt unerwartet als Kraft in dich hinein. Daran – an diese als Kraft empfundene Schönheit erinnere ich mich. Als ob die Schönheit eine besonders leicht, besonders süß zu atmende Luft wäre. Um Moskau herum gibt es eine derart intakte, derart ursprüngliche Schönheit nicht mehr. Deshalb ruft sie hier einen so mächtigen, symphonischen Eindruck hervor.

    Der "reine Raum", der "echte, hohe Himmel, der durchs struppige Fell der Wolken lugt" – nicht immer präsentiert sich die Insel so freundlich. Peitschender Wind, Regen, Kälte, lastender Nebel und lehmiger Schlamm bringen den Wanderer mit den fünfzig Kilo Gepäck auf dem Rücken mehr als einmal an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Belohnt wird Wassili Golowanow mit den Freuden ursprünglicher Genüsse, wenn er etwa rohes Rentierfleisch zu essen bekommt – "ein Energieklumpen, der im Magen wie eine Sonne explodiert, und dessen lebensspendende Wärme dich strahlengleich bis in die Finger- und Zehenspitzen hinein ausfüllt."

    Sein Buch referiert alles, was je über die Insel Kolgujew in der Barentssee geschrieben worden ist; es erinnert an die freie Existenz der Rentierzüchter, deren Jahrtausende alte Lebensform der Sowjetisierung und dem Wodka zum Opfer fiel; es hebt ihre vergessenen Mythen und Märchen ans Licht, es beschreibt das trostlose Leben der wenigen, die heute noch auf der Insel wohnen, den Schmutz, den Alkoholismus. Und setzt denen ein Denkmal, die trotz allem ihre Insel lieben und sich etwas von der Kraft und dem Stolz ihrer Großväter bewahrt haben.

    In dieser Hinsicht ist "Die Insel" ein geradezu enzyklopädisches Werk. Aber keine Angst vor langatmiger Belehrung! Höchst kunstvoll montiert der Autor Golowanow seine Reiseerlebnisse – die äußeren und inneren –, all die Lesefrüchte sowie Philosophisches über Raum und Zeit, Gedanken über sein Leben, seine Liebe, sein Schreiben zu einem komplexen Gebilde. Was der Autor über die Schönheit der Natur sagt – Sie erinnern sich: Er spricht von ihrem "mächtigen, symphonischen Eindruck" – das lässt sich auch von seinem Buch mit den stolzen 530 Seiten sagen.

    Sammelte man alle auf der Insel mit dem Wasser zusammenhängenden Geräusche, so ergäbe das ein phantastisches musikalisches Gewebe. Das Tröpfeln der Schneeplatten, das Plätschern der Flüsse (bei jedem und an jeder Biegung ein anderes), das Anbranden der Wellen, das Schwappen der Binnenseen, das Gepatschte der Gänseflügel und -füße auf dem Wasser, das Ausgleiten der niedergehenden Enten, das Gluckern und Schmatzen der Moore, das Schweigen und dann wieder feine Pfeifen des Nebels, das Knistern des tauenden Schnees.

    Ich habe gelesen, im alten Indien versammelten sich die Menschen bei einem Wasserfall, um dem Wasser seine Töne abzulauschen. Hier auf Kolgujew könnte man ein absolut phantastisches, in allen Nuancen einer strömenden Melodik schillerndes Werk schaffen.


    Als literarisches Werk widersetzt sich diese russische "Insel-Symphonie" jedem Versuch einer Einordnung – ein Roman, wie der Umschlag verheißt, ist sie auf gar keinen Fall. Sollte der verzeihliche Etikettenschwindel ein paar Leser mehr zu diesem grandiosen, wilden, leidenschaftlichen Buch greifen lassen – bitte nicht enttäuscht sein, Sie werden reich belohnt!

    Dem Verlag Matthes & Seitz kann man nur danken für diese verlegerische Großtat und Eveline Passet für ihre enorme Übersetzungsleistung.

    "Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens" – so der vollständige Titel – wird ihre Leser finden, unter den wahren Reisenden, die auf ihren Fahrten immer auch zu sich selbst unterwegs sind, unter denen, die mit dem Schreiben ringen – wie der Autor Golowanow, der ganze fünf Jahre an diesem Buch gearbeitet hat. Eine Zeit, in der er zum Einsiedler wurde, seine Freunde Millionen machten und seine neue Liebe sich von ihm abwandte. Aber es musste sein!

    Als das Buch fertig ist, wirft sich der Autor der geliebten Frau zu Füßen – und wird gnädig wieder aufgenommen. Zugegeben – das Happy End könnte aus einem Roman stammen.

    Wassili Golowanow. Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens.
    Roman. Aus dem Russischen von Eveline Passet. Matthes & Seitz, Berlin 2012. 530 Seiten.