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Russland
Dänischer Zeuge Jehovas in Untersuchungshaft

Das Oberste Gericht Russlands hat die Zeugen Jehovas verboten - mit Folgen für die Glaubensgemeinschaft: Die Gemeinden sollen aufgelöst und ihr Besitz soll konfisziert werden. In der Stadt Orjol gibt es inzwischen einen Zeugen Jehovas hinter Gittern: Ein Däne, dem Extremismus vorgeworfen wird.

Von Thielko Grieß | 27.07.2017
    Der Däne Dennis Ole Christensen, 44 Jahre alt, in Untersuchungshaft.
    Der Däne Dennis Ole Christensen, 44 Jahre alt, in Untersuchungshaft. (Deutschlandradio/Thielko Grieß)
    Die Polizisten kommen, mit Sturmhauben vermummt, in den Königssaal der Zeugen Jehovas in Orjol und beenden das dort stattfindende Bibelstudium. Sie erklären, sie führten die Durchsuchung auf Beschluss eines örtlichen Gerichts durch. In einem Video im Internet ist zu sehen, wie die Zeugen Jehovas Ausweise und Beschlüsse der Beamten prüfen wollen.
    Dennis Ole Christensen sitzt in Untersuchungshaft
    Der 25. Mai – der Tag der Durchsuchung ist zugleich der Tag des letzten Treffens im Königssaal. Das Gebäude ist seither verschlossen. Nach der Durchsuchung sind Dutzende Mitglieder der Glaubensgemeinschaft verhört und danach wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Doch einer sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
    Der Däne Dennis Ole Christensen, 44 Jahre alt, wird der Haftrichterin vorgeführt. Sie entscheidet an diesem Tag, ob seine Untersuchungshaft verlängert wird. Wer Fotos von ihm aus der Zeit vor der U-Haft mit dem Äußeren des Mannes vergleicht, der im Gerichtssaal in einem metallenen Käfig sitzt, erkennt schnell: Christensen ist hagerer geworden, er hat abgenommen. Der Beschuldigte lächelt dennoch häufig, nimmt Augenkontakt mit den Zuschauern auf. Die meisten von ihnen sind Zeugen Jehovas aus der Gemeinde in Orjol. Dem Angeklagten gegenüber sitzen sein Verteidiger und eine Staatsanwältin, die sich zumeist mit ihrem Smartphone beschäftigt. De facto ist es der Ermittler der örtlichen Zweigstelle des Geheimdienstes FSB, der die Vorwürfe formuliert.
    "Im Augenblick wird Christensen ein schweres Verbrechen gegen die russische Verfassungsordnung und Sicherheit des Staates vorgeworfen, für das laut Gesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren vorgesehen ist. Das in Rede stehende Verbrechen ist von besonderer Gefährlichkeit für die Gesellschaft, weil es damit verbunden ist, eine große Zahl von Menschen in den Extremismus einzubeziehen, darunter Minderjährige und Senioren."
    Außerdem sieht der Ermittler Fluchtgefahr. Christensen könne sich nach Dänemark oder in die USA absetzen. Er müsse deshalb weiter in Untersuchungshaft bleiben.
    "Wir schreiben einander Briefe, die allerdings zensiert werden"
    In einer Verhandlungspause geht Irina Christensen an die frische Luft. Sie ist Russin, ebenfalls Zeugin Jehovas und seit 13 Jahren mit dem Dänen verheiratet. Sie sagt, sie habe ihren Mann während der seit zwei Monaten andauernden Untersuchungshaft nicht besuchen dürfen. Das verstoße zwar gegen russisches Recht, habe aber keine Konsequenzen.
    "Wir schreiben einander Briefe, die allerdings zensiert werden. Einen Teil dieser Briefe erhalte ich, und ich weiß, wie es ihm geht, was er liest, was er macht. Dennis schreibt mir lange, ausführliche Briefe. Er schreibt mir jeden Tag, und ich schreibe ihm jeden Tag. Wir schreiben Daten auf die Briefe, deshalb merken wir, dass nicht jeder Brief ankommt."
    Als der Prozess fortgesetzt wird, berichtet der Beschuldigte öffentlich davon, wie es ihm geht.
    "In der Untersuchungshaft haben sich meine chronischen Beschwerden verschlimmert. Für die Heilung brauche ich professionelle Behandlung. Die kann ich in der Untersuchungshaft nicht bekommen. In der U-Haft hat man mir nur zwei Mal wöchentlich zu duschen erlaubt. An allen anderen Tagen wasche ich mich mithilfe einer Flasche; es gibt kein heißes Wasser. Außerdem rauchen alle anderen Zellenkameraden, was meiner Gesundheit schadet. Leider habe ich wegen früherer Bandscheibenvorfälle und mangelnder Bewegung nun auch Rückenschmerzen. Ich brauche eine professionelle Behandlung."
    Die Untersuchungshaft wird bis Ende November verlängert
    Sein Anwalt und er argumentieren, die Zeugen Jehovas hätten sich friedlich dem Bibelstudium gewidmet und niemanden geschädigt. Fotos sollen ihn beim freiwilligen Säubern eines städtischen Parks zeigen. Er sei ein gesetzestreuer Bürger und könne aus der U-Haft entlassen werden.
    Doch die Richterin entscheidet: Die Untersuchungshaft wird bis Ende November verlängert. Christensen sei des Extremismus‘ verdächtig. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erklärt den Dänen am Folgetag zu einem politischen Gefangenen. In der Gemeinde in Orjol zählen sie inzwischen diejenigen, die schon ins Ausland ausgereist sind und dort um Asyl ersucht haben oder dies vorhaben. Es soll sich um bald 20 Familien handeln. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg bestätigt auf Anfrage, dass es in den vergangenen Jahren und auch in diesem Jahr Asylanträge von Zeugen Jehovas aus Russland gegeben hat.