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Russland
Die verborgenen sozialen Proteste

Es gibt soziale Bewegungen und Proteste, allerdings nicht so, dass diese in Russland eine landesweite Bedeutung erzielen würden. Experten sehen die Ursprünge für eher lockere Bewegungen auch in der Sowjetzeit. Auf dem Berliner Colloquium zur Zeitgeschichte diskutierten sie die gesellschaftlichen Veränderungen in Russland seit 1980.

Von Andreas Beckmann | 26.05.2016
    Aktivisten der Moskauer Helsinki-Gruppe demonstrieren mit dem Slogan "Stoppt Gewalt" auf einem Plakat, um russische Journalisten zu unterstützen.
    Aktivisten der Moskauer Helsinki-Gruppe während einer Kundgebung zur Unterstützung russischer Journalisten (dpa / Artyom Korotayev)
    Russland und Putin – diese beiden Begriffe erscheinen sowohl in der politischen wie der sozialwissenschaftlichen Debatte im Westen oft wie Synonyme. Ganz so, als bestünde das gesamte Land nur aus dem Präsidenten samt seiner Partei "Geeintes Russland", einer ihm treu ergebenen Bevölkerung und ein paar ganz wenigen, marginalisierten Dissidenten. Dabei ist Russland ein Land der Vielfalt. Nicht nur, weil hier fast 100 verschiedene Ethnien, keineswegs immer konfliktfrei, zusammenleben. Sondern auch, weil es eine durchaus bunte Opposition gibt, berichtet Mischa Gabowitsch, Soziologe am Einstein Forum Potsdam:
    "Fast schon in jeder größeren Stadt gibt es eine Bewegung, die versucht, einen Stadtwald zu retten vor Abholzung oder den Bau einer Straße zu verhindern oder so etwas. Die einen politisieren ihr Engagement tatsächlich sofort und sagen, Putin und das "Geeinte Russland" zerstören unseren Wald, die anderen hüten sich davor und sagen, wir möchten mit dieser großen Politik überhaupt nichts zu tun haben, sondern es geht uns tatsächlich um ein Stück unserer Lebenswelt."
    Schon diese völlig unterschiedlichen Ansätze verhindern, dass die vielen lokalen Gruppen eine Partei oder eine Bewegung aufbauen, die landesweit als alternative oder oppositionelle Kraft wahrgenommen würde.
    "Es wird einem immer wieder gesagt, so, wenn du jetzt weiter machst, dann machst du schon Politik und das darfst du nicht. Politik, das musst du den großen starken Männern überlassen und so weiter und so fort."
    Nicht in Politik einmischen
    Dass Politik ein Gebiet ist, in das man sich besser nicht einmischt, verkündet aber nicht nur die staatliche Propaganda. So denken auch viele Menschen, für die Politik einfach nur ein schmutziges Geschäft ist. Nach Ansicht von Alena Ledeneva, Slawistin am University College London, ist diese Haltung ein Erbe der Sowjetzeit.
    "Der Austausch von Gefälligkeiten war das Merkmal des politischen Systems der Sowjetunion, das Prinzip: Eine Hand wäscht die andere. Beziehungen waren quasi eine eigene Währung in dieser Gesellschaft, in der ohne Beziehungen gar nichts ging."
    Egal, ob es sich um knappe Konsumgüter handelte oder politische Mitsprache: Wer etwas erreichen wollte, musste einen Deal mit dem zuständigen Funktionär eingehen. Alle haben diesen Mechanismus gehasst, erzählt Alena Ledeneva, weil sie spürten, wie korrupt dieses System war. Aber alle haben mitgemacht, weil sie nur so etwas bewirken konnten. So formte das System aus jedem Bürger einen vereinzelten Untertan, der der Bürokratie allein gegenüber stand. Auch, wenn offiziell immer das Kollektiv beschworen wurde, war die sowjetische Gesellschaft gleichzeitig stark individualisiert. Es gab keine Arbeiterschaft, die sich in freien Gewerkschaften hätte organisieren können, keine Kleinunternehmer, Beamten oder Freiberufler, die ihre Interessen in Verbänden vertreten hätten. Anders als im Westen wurden nie gesellschaftliche Großgruppen oder soziale Schichtungen sichtbar.
    "Schon in den 30er-Jahren haben die sowjetischen Behörden aufgehört, Statistiken über soziale Ungleichheit auszuweisen. Stadt- und Landbevölkerung, Männer und Frauen, Alte und Junge, das waren die einzigen Unterschiede, über die man öffentlich noch reden durfte. In den 70er-Jahren waren dann offiziell alle Klassenunterschiede verschwunden und bis heute kommt man kaum an Daten zur sozialen Ungleichheit."
    Deshalb, so der Soziologe Alexander Bikbov von der Universität Moskau, lasse sich bis heute kein klares Bild von der Struktur der Gesellschaft zeichnen. Vor allem lässt sich soziale Ungleichheit nur schwer beschreiben, obwohl schon in der späten Sowjetunion und erst recht in der Jelzin-Zeit die Unterschiede zwischen arm und reich größer geworden sind.
    Immer wieder heftige soziale Konflikte
    Immer wieder gibt es heftige soziale Konflikte, die auch Aufsehen erregen, wenn sie sich landesweit ausdehnen wie kürzlich ein Streik der LKW-Fahrer gegen Mautgebühren. Aber es entstehen keine Solidarisierungseffekte über die Gruppe der unmittelbar Betroffenen hinaus. Die LKW-Fahrer haben sich zu einem lockeren Verbund zusammen geschlossen und werden vielleicht eine berufsständische Organisation wie die deutsche Lokführergewerkschaft bilden, meint Alexander Bikbov. Aber sie werden bestimmt keine Transportarbeitergewerkschaft aufbauen, die eine ganze Branche organisieren könnte. Vielleicht lösen sich die Strukturen des Protests aber auch schon bald wieder auf.
    "Diese Mechanismen funktionieren auch in der Hinsicht, dass Politiker oft zu den Protestierenden kommen und sagen, so, wenn ihr jetzt mal die Klappe haltet, dann einigen wir uns schon irgendwie. Ich gebe euch, was ihr wollt, nicht weil ihr das Recht habt, sondern weil ich so gut bin, aber dafür müsst ihr jetzt aufhören, zu protestieren."
    Auf diese Weise, ergänzt Mischa Gabowitsch, können gerade Umweltinitiativen auf lokaler Ebene häufig Forderungen durchsetzen. Aber solche kleinen Triumphe werden dann kaum als Siege einer oppositionellen Gruppe sichtbar. Und sie sind oft nur kurzfristig.
    "Das Problem ist, es gibt nicht die Institutionen, die es erlauben würden, diese kleinen lokalen Siege zu verstetigen. Das heißt, wenn morgen der Gouverneur der Region sagt, so, jetzt demonstrieren die ja nicht mehr, dann kann ich ja jetzt meine Straße bauen, dann haben die kaum eine Möglichkeit, etwas dagegen auszurichten."
    Viel Armut und Frustration
    Um die Jahreswende 2011/2012 schien es so, als ob die Opposition der Regierung doch einmal gefährlich werden könnte. Nach erheblichen Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl gingen im ganzen Land Hunderttausende auf die Straße. Doch die Protestwelle ebbte nach einen halben Jahr wieder ab. Ein Grund war, dass die Polizei zum Teil sehr hart gegen Demonstranten vorging. Der andere, dass die Oppositionellen außer der Annullierung der Wahlen kaum ein gemeinsames Ziel formulieren konnten.
    "Man findet auch in den Diskursen der Oppositionsaktivisten unglaublich viel Rassismus, Sexismus, Verachtung gegenüber ärmeren Schichten in der Bevölkerung und so weiter. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass es sozusagen eine geläuterte Opposition gibt, die alles, was es so an Gutem gibt in der Welt, dem bösen Putin gegenüberstellt."
    Putin gefährden kann derzeit niemand. Aber Russland wird ein Land des vielfältigen Protests bleiben, prognostiziert Alexander Bikbov.
    "Es gibt eine Menge Unruheherde. Putin hat dafür gesorgt, dass die staatlichen Institutionen wieder einigermaßen funktionieren und dass es wieder eine soziale Grundsicherung gibt, vor allem für Rentner. Aber es gibt so viel Armut und Frustration, dass niemand vorhersagen kann, welcher Konflikt als Nächstes explodieren könnte."