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Russland
Freiheit im selbstgebauten Mikrokosmos

Fast 40 Prozent der jungen Russen wollen auswandern. Wirtschaftskrise und politische Stagnation treiben sie aus dem Land. Doch die, die bleiben, bauen sich in den Hinterhöfen Moskaus ihre eigene, kreative Welt zusammen - und bitten zum Tanz.

30.12.2016
    Die Musikerin Zhenja bei einer Sampling Session in Moskau
    Die Musikerin Zhenja bei einer Sampling Session in Moskau (Deutschlandfunk/Annette Kammerer)
    Zhenja ist 29 und Musikerin. Sie hat einen frechen Kurzhaarschnitt und in der Nase einen Piercing. Zhenja singt und improvisiert frei zur Musik, die an Computern vor ihr auf dem Tisch entsteht. Eine Handvoll junger Leute drückt auf die bunten Knöpfe ihrer Synthesizer. Offene "Sampling Session" in einem Hinterhof im Osten Moskaus.
    Draußen ist es schon längst dunkel geworden. Der strenge Moskauer Winter hält die Stadt fest im Griff. Die Welt da draußen und ihre Sorgen haben die jungen Hauptstädter für ein paar Stunden ausgesperrt.
    "Mit der Wirtschaftskrise ist natürlich alles schwieriger geworden. Die Gehälter fallen. Man kann jetzt vielleicht nicht mehr durchgängig feiern. Trotzdem finden wir alle Mittel und Wege, um dennoch auf Partys zu gehen."
    Kunst und Musik im alternativen Kulturzentrum
    Der graue Betonklotz, in dem sich Zhenja und die anderen jungen Moskauer zur Sampling Session treffen, gehört zu einem kleinen Party- und Kulturkollektiv. Eigentlich hätte hier mal ein Büro einziehen sollen, jetzt gibt es eine schwach beleuchtete Bar an der Club Mate verlauft wird. Ein bisschen Kunst und große Musikboxen hängen an der Wand. NII nennt sich das junge Kreativzentrum, "Nauka i Iskustvo", zu deutsch: "Wissenschaft und Kunst". Es öffnete vor genau zwei Jahren. Im Herbst 2014 als der russische Rubel mit einem Schlag fast die Hälfte an Wert verlor.
    "Die Menschen wollen auch trotz der Krise etwas erschaffen und nicht auf der Stelle treten: Die lokale Szene weiterbringen, Musiker unterstützen, eben eine eigene, kleine Gemeinschaft aufbauen."
    Die junge Russin ist Teil einer kleinen, neuen Welt, die rund um das NII herum entstanden ist und nach ihren eigenen Regeln spielt: Flache Hierarchien, nur so viel Geld, dass es zum Überleben reicht und bloß keine Nine-to-Five-Jobs. Man ist hier, um das Leben zu feiern, Musik zu machen.
    Der Traum von der eigenen kleinen Stadt
    Gegründet wurde das NII von Alexander und Ildar. Beide sind Ende zwanzig und führen – eingepackt in übergroße Winterjacken – durch das noch leerstehende Bürogebäude nebenan. Denn der eigene Betonklotz ist schon zu klein für Elektro-Raves geworden.
    "Wenn das mal unsere eigene kleine Stadt wird, dann haben wir hier auch unsere eigene Regierung mit eigener Politik. (LACHEN). Ja, natürlich machen wir dann auch unsere eigene Politik hier."
    Die DIY-Szene in Russland wächst
    Am Ende steht für Ildar und Alexander die eigene kleine Stadt, mit eigener Politik und eigener Regierung. Doch was die beiden als Witz meinen, trägt in Wirklichkeit viel Wahrheit in sich.
    "Aufgrund all der gesetzlichen Einschränkungen ziehen sich junge Russen heutzutage immer mehr aus der Politik zurück und werden politikverdrossen. Sie gründen dann lieber eigene, nicht-politische DIY-Projekte im sozialen oder kulturellen Bereich."d
    Sagt Margarita Kuleva. Sie arbeitet am Zentrum für Jugendforschung in Sankt Petersburg und erforscht dort die wachsende DIY-Szene des jungen Russlands. Den größten Boom gab es nach den Bolotnaja-Protesten im Winter 2011. Damals gingen mehrmals zehntausende, mehrheitlich junge Russen auf die Straße, um gegen die Wahl Wladimir Putins zum neuen Präsidenten zu protestieren.
    "Mit den Demonstrationen 2011 hat die Jugend verstanden, dass sie im großen Maßstab kaum etwas verändern kann, deshalb wird auch der Wunsch zum eigenen Mikrokosmos, zur eigenen Regierung, wie mir manche gesagt haben, wichtig, um so leben zu können, wie es ihnen selbst gefällt."
    "Hier beginnt alles, hier werden die Sachen angeliefert und werden anschließend sortiert. Pro Tag kommt hier sicherlich eine halbe Tonne Zeugs an."
    Ein Trödelladen in Moskau
    Svalka verkauft mehr als nur Second-Hand Klamotten. Hier gibt es auch ein Tattoo-Studio, eine Konzertbühne und ein Pferdekarussell (Deutschlandfunk/Annette Kammerer)
    Ein Second-Hand-Laden namens Müllkippe
    Alexey begutachtet die eben eingetroffene Ware in seiner Second-Hand-Fabrik: Kleider und Wintermäntel. Zwei Mal die Woche öffnet "Svalka", zu Deutsch: Müllkippe, ihre Fabriktore in einem versteckten, heruntergekommen Industriebau in Moskau. An den Wänden hängen Banner mit kommunistischen Sprüchen und in der Mitte der Halle steht ein glitzerndes Pferdekarussell. Sogar ein Zimmer voll mit alten Möbeln und defekten Elektrogeräten gibt es – das kann man mieten, um alles zu verwüsten. Bei jungen Russen käme das besonders gut an, sagt Alexey:
    "In der Welt gibt es strenge Regeln und das hier ist ein Raum, in dem du alles machen kannst, was du willst und niemand belangt dich dafür. Und weil wir 70 Prozent unserer Profite spenden, kannst du hier Unfug treiben und trotzdem etwas Gutes tun."
    Eine Welle des Aufbruchs geht durch Russland
    Und seine Idee expandiert: In vier weiteren russischen Städten gibt es Svalka schon. Die jungen Kreativen schwimmen auf einer Welle, die eine Brise von Aufbruch und Veränderung mit sich trägt, wie Ildar erklärt:
    "Für mich scheint das hier in Russland genau die richtige Zeit dafür zu sein, sein eigenes Ding zu machen. Es findet ein Wandel statt. Die Menschen wollen ihre eigene Sichtweise ausdrücken, ihre eine eigene Welt, ihre eigene Szene mit eigenem Charakter, erschaffen. Es ist wichtig, das im Moment in Russland zu erleben."