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Russland
Gedenken an die Februarrevolution 1917 fällt aus

Es gibt in Moskau keine präsidiale Veranstaltung, die an den Beginn der Februarrevolution vor 100 Jahren erinnert. Laut einer Umfrage können 43 Prozent der Befragten die Ereignisse nicht einordnen. Dabei läutete die Februarrevolution 1917 das Ende der 300-jährigen Zaren-Herrschaft ein.

Von Thielko Grieß | 08.03.2017
    Aufständige auf dem Newski-Prospekt in Petrograd im Februar 1917: Der Historiker Helmut Altrichter liefert eine ausführliche Analyse des Revolutionsjahres.
    Revolutionäre auf dem Newski-Prospekt in Petrograd im Februar 1917. (dpa / ria novosti / Schöningh)
    Dass sich die schwelenden Revolten ausgerechnet am 8. März – oder nach dem vor 100 Jahren in Russland gültigen Kalender am 23. Februar – verdichteten, war kein Zufall. Die sozialistische Frauenbewegung hatte den Tag gewählt, um in die Öffentlichkeit zu treten. Auch in Petrograd, wie Sankt Petersburg seit Beginn des Krieges gegen Deutschland hieß:
    "Während der Kriegsjahre ist dieser Tag fast überall vergessen worden, nur nicht in Russland. Bolschewiken, Menschewiken, Sozialrevolutionäre und kleinere Gruppen planten an diesem Tag 1917 verschiedene Aktionen, druckten Flugblätter, bereiteten Reden vor. Doch sie haben alle nicht erwartet, welche Ergebnisse ihr Auftreten herbeiführen würde", sagt Boris Kolonizkij, Historiker an der Europa-Universität in Sankt Petersburg.
    Ein gewaltiger Einschnitt für Russland und Europa
    Vieles kam nun, 1917, zusammen: die enorme Kriegsmüdigkeit von Armeeführung und Soldaten, die grassierende Korruption, Lebensmittelmangel, Einmischung des Auslands, Untergrundkämpfer. Ebenso Zufälle: Als Arbeiter aus dem industriell-armen Stadtteil Vyborg ins Zentrum Petrograds strömten, sperrte die Polizei zwar Brücken. Aber die Menschen gelangten über das Eis auf dem Fluss trotzdem hinüber. Darunter viele Frauen, die in den Fabriken arbeiteten und gleichzeitig ihre Familien über Wasser halten mussten.
    "Das vorrevolutionäre Russland kann man zwar einen Polizeistaat nennen, aber mit unzureichender Polizei. Auch aus Geldmangel wurden Kosaken als Hilfstruppen eingesetzt. Als diese berittenen Kräfte auf die Demonstranten stießen, tat sich überraschend nichts: Die Kosaken griffen nicht hart ein, griffen nicht zur Peitsche."
    Nur eine Etappe auf dem Weg zur proletarischen Revolution
    Erst später schritten Polizei und Militär dann doch ein, allein in Petrograd starben rund 1.500 Menschen. Doch das Fundament der Monarchie war längst porös geworden; innerhalb weniger Tage hatte eine Provisorische Regierung die Macht übernommen. Das Ende der etwa 300-jährigen Herrschaft der Romanows in Russland war ein gewaltiger Einschnitt für das Land selbst und Europa – mit dem heutzutage viele Russen nichts mehr anfangen können. 43 Prozent der vom unabhängigen Lewada-Zentrum Befragten können die Ereignisse nicht einordnen und bewerten. Die Zahl erklärt der Soziologe und Zentrumsleiter Lew Gudkow:
    "Die Ergebnisse dieser Umfrage spiegeln wider, wie träge sich Vorstellungen aus dem sowjetischen Schulsystem entwickeln: Die Februarrevolution galt lediglich als erste, unvollständige Etappe der proletarischen Revolution; als eine bürgerliche führte sie zur bolschewistischen Revolution."
    Geringes Bemühen, das Wissen zu erweitern
    Meinungsforscher Gudkow erwartet, dass die russische Führung schon bald eine Deutung besonders betonen wird, um zu untermauern, weshalb sie weitere Revolutionen im heutigen Russland ablehnt:
    "Es ist ideologisch sehr wichtig zu betonen, dass es innere Feinde gab, die letztlich einen Umsturz und Chaos stifteten. Das ist wichtig, um Repressalien zu begründen und um eine Atmosphäre der Angst zu erschaffen. Gerade totalitäre oder autoritäre Regime können damit Repressalien gegen Opponenten oder Kritiker begründen."
    Präsident Wladimir Putin hatte zum Jahreswechsel das Land dazu aufgerufen, Versöhnung zu üben, besonders mit Blick darauf, was auf Februarrevolution und Oktoberrevolution unmittelbar folgte: ein Bürgerkrieg. Allerdings ist das Bemühen gering, das Wissen insgesamt zu erweitern. Heute gibt es in Moskau keine einzige präsidiale Veranstaltung, die an den Beginn der Februarrevolution vor 100 Jahren erinnert.