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Russland genügt sich selbst

"Ich wollte einen Tag im Leben eines treuen Untertanen beschreiben. Einen Tag im Leben von jemandem, der für die Obrigkeit alles tun würde." In seinem neuen Roman "Der Tag des Opritschniks" beschreibt der Anti-Utopist Vladimir Sorokin diesen in einem politisch vollständig isolierten Russland des Jahres 2027 und stellt sich die Frage, was das Land von tatsächlichen Demokratien unterscheidet.

Von Katrin Hillgruber | 25.02.2008
    Rot, krasny, heißt im Russischen auch schön. Für den Revolutionsmaler Kasimir Malewitsch verkörperte sein satt rotes Quadrat das Überpersönliche und Symbolische der Kunst seit der Zeit der altrussischen Ikonen. Nach Vladimir Sorokin wird im Januar 2027 mit dieser Farbsymbolik Schluss sein. Der Rote Platz heißt der Schöne Platz, der Kreml ist blendend weiß gestrichen. Der schmetternde Gesang des "Rotbanner-Kremlchors" wird nur deshalb noch geduldet, weil er für das Tagwerk im Riesenreich Kraft spendet. Bereits Jahre zuvor war das Volk einem Aufruf seines neuen Herrschers, des Gossudaren, gefolgt und hatte seine Reisepässe dem Feuer übergeben. Der einzige verbliebene Handelspartner ist China.

    Laut Stalin bestand die Weisheit Iwan des Schrecklichen darin, keine Ausländer mehr ins Land zu lassen. In seinem neuen Roman "Der Tag des Opritschniks" hat Russlands berühmtester Anti-Utopist Vladimir Sorokin die isolationistischen Tendenzen seiner Heimat wörtlich genommen. Das Ergebnis besticht durch Scharfsinn und makabren Witz. Sorokin erklärt:

    "Es gibt heutzutage die weitverbreitete Sicht, dass Russland eigentlich sich selbst genügt. Wir haben alles, was wir brauchen: Gas, Öl, wir haben Wälder, wir haben Holz. Und alles Übel kommt aus dem Westen. Der Westen spielt eine destruktive Rolle gegen Russland. Es gibt wirklich viele Stimmen, die sagen: Wir müssen uns gegen den Westen abschotten. Als würde man eine große russische Mauer bauen wollen. Das war in der Presse, es gab Artikel zu dem Thema und so weiter. Meine Idee in dem Roman war eigentlich eine Art Experiment: Was würde passieren, wenn man tatsächlich so eine Mauer bauen würde, was käme heraus, wenn Russland so isoliert leben würde. Wenn an die Stelle des Marxismus als Hauptideologie die Orthodoxie und im Grunde die Monarchie träte, würde Russland sehr schnell in die Vergangenheit zurückkehren, und zwar ins 16. Jahrhundert, in seine Entstehungszeit. Und wir würden sehr schnell auch anfangen, die Sprache dieses 16. Jahrhunderts zu sprechen. Sie würde sich mit der Sprache der Hochtechnologie mischen, und das Ergebnis wäre ein groteskes."

    Vladimir Sorokin geht es beileibe nicht um eine simple Putin-Satire, wie er sagt. Dabei sieht der schmalgesichtige Gossudar bei seinen nach Ikonen-Art goldumflorten Videoansprachen dem gegenwärtigen Staatschef trotz Bart auffallend ähnlich. Nein, Sorokin beschäftigt vielmehr die Frage, was Russland von wirklichen Demokratien unterscheidet. Zu diesem Zweck hat er die Sehnsüchte nach einer slawischen Autonomie auf ihren historischen Urgrund zurückgeführt. Er erweckt den Schrecken der Opritschnina, der Leibgarde Iwan des Schrecklichen, zu neuem Leben. Die staatlichen Mörder, Plünderer und Brandschatzer in ihren furchterregenden schwarzen Kutten trugen als Insignien einen Besen und einen Hundekopf.

    Im Buch ist es der frische Kopf eines Wolfshundes, den der Pferdeknecht an die Stoßstange des Dienstwagens montiert: als Signal höchster Wachsamkeit. Nach dem Bad, einem traditionellen Frühstück sowie dem Küssen der Ikone des Heiligen Georg beginnt ein beliebiger Montag im Leben des Andrej Danilowitsch Komjaga. Seine Perspektive nimmt der Roman radikal ein.

    Die erzählerische Beschränkung auf einen Tag vom Erwachen bis zum Schlafengehen tut Sorokins vor Phantasie überschäumendem Schreibtemperament gut. Anders als die "Ljod"-Trilogie oder der 2068 angesiedelte "Himmelblaue Speck" fällt der neue Roman realistischer und dadurch noch erschreckender aus. Der Buchtitel spiegelt Alexander Solschenizyns Kurzroman "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" von 1962. Darin ging es um den trostlosen Tagesablauf eines Gulag-Insassen. Nun ist eine Innensicht der Macht aus der genießerischen Täterperspektive zu erleben.

    "Das habe ich inzwischen schon öfter gehört, diese Sicht des Romans als Antwort auf Solschenizyn. Ich habe beim Schreiben nicht daran gedacht. Ich wollte tatsächlich einfach einen Tag im Leben eines treuen Untertanen beschreiben. Einen Tag im Leben von jemandem, der für die Obrigkeit alles tun würde. So eine Art treuer Hund. Aber natürlich gibt es diese Tradition. Es gibt ja nicht nur ‚Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch’, es gibt auch einen Roman ‚Der Tag des Schakals’, ich weiß den Autor gerade nicht. Aber im Grunde war es eine Idee, die mir formal gefallen hat: In einem Tag das Leben so einer Person zu erzählen und damit zugleich ein Bild der Gesellschaft zu zeigen."

    Der Arbeitstag des Opritschniks beginnt vor den Toren Moskaus mit der Ermordung eines in Ungnade gefallenen Dienstadligen oder Bojaren: Von Werst bis "Faustkeil" für Handy bedienen sich der Autor und sein kongenialer Übersetzer Andreas Tretner einer hochkomischen Sprache. Elastisch mäandert sie zwischen Mittelalter und Internet-Zeitalter. Die Witwe des Adligen muss eine Gruppenvergewaltigung erdulden, die der Held als Ranghöchster initiiert. Der Abend der Opritschniki klingt in der Sauna ihres Ältesten aus. Bevor sich die Bruderschaft zur kopulierenden Kette vereint, wird eine zweckdienliche Pille eingeworfen.

    Gewalt ist die selbstverständliche Begleitmusik. Diese Beiläufigkeit macht sie so bedrohlich, verstärkt durch den jovialen Plauderton, in dem das virile Abenteuerbuch gehalten ist. Mit sichtlichem Vergnügen lässt Sorokin seinen Helden im Stil altrussischer Sagen schwadronieren. Unentwegt streut er das Fazit "Und das ist gut so" ein, variiert durch die Kampfrufe "Dran und drauf!" oder "Schuld und Sühne!". Die Putin-Jugend, die einst seinen Roman "Der Himmelblaue Speck" in ein überdimensionales Pappmaché-Klosett warf, transformiert der 52-jährige Autor in den "Bund der wackeren russländischen Burschen des Guten". Muss die Literatur in Russland immer mehr die Rolle der kritischen Presse übernehmen?

    "Die Literatur ist immerhin tatsächlich noch eine freie Zone. Es gibt bislang keine Literatur-Zensur, ich kann immer noch schreiben, was ich will, und mein Verleger kann drucken, was er will. Aber ich sage in diesem Zusammenhang immer dazu: bislang. Was in zwei Jahren sein wird, weiß man nicht."

    Demnach fällt seine Prognose für die Präsidentschaftswahl am 2. März pessimistisch aus?

    "Wissen Sie, Russland ist kein gutes Land für genaue Prognosen, weil sich in Russland einfach ständig die Spielregeln ändern. Stellen Sie sich vor, Sie spielen Schach, und jeden Tag bewegen sich die Figuren auf eine andere Weise. Im Jahr 1984, auf dem Höhepunkt der Stagnation, als der KGB-Chef Andropow an der Macht war, wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ein Jahr später die Perestrojka einsetzen würde: Ich hätte es nicht geglaubt."

    Der Opritschnik neuen Typs fliegt schnell an die Ostgrenze, um einen einträglichen Zollbetrug zu Lasten der Chinesen abzusichern und wie einst Iwan eine Wahrsagerin zu konsultieren. Später genießt er eine öffentliche Züchtigung vor der Universität oder einen Blick in die erbauliche vaterländische Prosa. Er ist ein Leibeigener. In seinen linken Handteller wurde das russische Hoheitszeichen implantiert, das bei elektronischen Kontrollen aufleuchtet. Sorokin erklärt:

    "Natürlich! Ja, das ist natürlich aktuell. Schauen Sie, die heutigen Opritschniki, das sind die Silowiki, die Mitarbeiter der Macht, der Ministerien und die Vertreter der Instanzen. Man kann sie auch als staatliche Schutzgelderpresser beschreiben. Die Unternehmern einfach ihren Besitz wegnehmen oder sie zwingen, ihn zu verkaufen."

    Vladimir Sorokin hat erneut sehr viel riskiert, auch was ihn selbst betrifft. Wer Ohren hat, der höre den alarmierenden "Staatshyperton", wie es im Buch heißt. Wie wurde "Der Tag des Opritschniks" in Russland aufgenommen?

    "Die Reaktionen waren sehr lebhaft, das Buch wird sehr viel zitiert, in allen möglichen Kontexten. Ein besonders interessantes Beispiel ist vielleicht, dass Boris Berezovsky, der regelmäßig einen Offenen Brief an Putin schreibt, den man auch im Internet lesen kann, auf den Roman eingeht und fragt: ‚Wolodja, hast Du diesen Roman gelesen? Das ist eure Zukunft!’"

    Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks
    Aus dem Russischen von Andreas Tretner
    Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2008
    221 Seiten, 18,90 Euro