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Russland hält mehrere Demonstranten in U-Haft fest

Am Tag der Amtseinführung von Präsident Wladimir Putin im Mai demonstrierten etwa 70.000 Menschen für ein demokratisches Russland. Kurz vor der Abschlusskundgebung prügelten Polizisten auf die Demonstranten ein. Was die Gewalt auslöste, wer angefangen hat, darüber streiten Regierung und Oppositionelle heftig.

Von Gesine Dornblüth | 26.07.2012
    Moskau am 6. Mai. Das Video zeigt eine blonde Frau in einer Menschenmasse, direkt vor einer Phalanx aus behelmten Elitekämpfern der OMON, der Sondertruppe der russischen Polizei. Die Frau dreht sich um und ruft: Männer, hierher, schneller! Drückt hierher!

    Es folgt ein Schnitt. Dann ist zu sehen, wie ein Vermummter in einem Kapuzenpulli einem Polizisten eine Fahnenstange gegen die Brust drückt. Die Umstehenden zerren ihn zurück.

    Das Video ist im Internet zu sehen. Die blonde Frau heißt Maria Baronowa, 28 Jahre alt, Chemikerin, alleinerziehend, seit einem halben Jahr in der Protestbewegung aktiv. Sie trägt Perlenkette und eine geblümte Bluse. Bei der Demonstration am 6. Mai betreute sie im Auftrag der Veranstalter die Presse. Jetzt ist sie wegen Anstiftung zu Massenunruhen angeklagt. Sie ist auf freiem Fuß, doch sie darf Moskau nicht verlassen. Im Fall einer Verurteilung drohen ihr mehrere Jahre Haft. Baronowa schildert die Ereignisse am Nachmittag des 6. Mai so:

    "Die OMON fing an, die Leute in eine Richtung zu schieben. Einer etwa 55-jährigen Frau wurde schwindelig. Sie fiel um. Ich habe die OMON-Leute gebeten, die Frau durchzulassen. Sie haben gesagt: Wir haben keinen Befehl. Da habe ich angefangen zu schreien, genau das ist auf dem Video zu sehen. Ich hatte eine Panikattacke. Ich war hysterisch. Dann haben sie die Frau durchgelassen und sie zu den Sanitätern gebracht."

    Kurz darauf flogen Steine. Maria Baronowa knetet ihre Finger. Mit ihr ist noch ein Dutzend weiterer Verdächtiger angeklagt. Die meisten sitzen in U-Haft. Es sind bis dahin unbekannte junge Leute mit ganz verschiedenen Berufen, darunter eine Frau. Zweihundert Fahnder des Innenministeriums ermitteln. Anfang Juni, einen Tag vor einer neuerlichen Großdemonstration, durchsuchten sie die Wohnungen der Oppositionsführer. Auch die von Baronowa.

    "Sie haben Flugblätter für ein freies, gerechtes und ehrliches Russland gefunden und sogar Kinderfotos und Ultraschallaufnahmen meiner Schwangerschaft mitgenommen."

    Autorin:
    Bald darauf klingelten zwei Frauen an ihrer Tür, gaben sich als Mitarbeiterinnen der Vormundschaftsbehörde aus, erkundigten sich nach ihrem Sohn. Sie verschwanden, als Baronowa drohte, die Presse zu rufen.

    Was tatsächlich am Nachmittag des 6. Mai passierte, ist unklar. Feststeht: Zu der Protestkundgebung kamen viel mehr Menschen als erwartet. In Russland müssen alle Teilnehmer von Demonstrationen Metallrahmen passieren und werden von der Polizei kontrolliert. Trotzdem konnte sich eine Gruppe Vermummter unter die Menge mischen. Entgegen allen Absprachen versperrte die Polizei den Demonstranten den Weg zur Abschlusskundgebung. Aus Protest riefen die Organisatoren zu einer Sitzblockade auf. Anhänger der Opposition sagen, die Sicherheitskräfte hätten die Ausschreitungen bewusst provoziert, um die bis dahin friedliche Protestbewegung zu diskreditieren. Sie hätten Provokateure eingeschleust. Maria Baronowa will jemanden beobachtet haben.

    "Es gab da so einen Muskelprotz in schwarzer Maske. Er hat sich sehr merkwürdig benommen. Er hat zuerst einen Elitepolizisten geschlagen, konnte dann aber ganz ruhig durch deren Reihen spazieren. Später hat er die OMON sogar angewiesen, in welche Richtung sie laufen soll."

    Baronowa hat das auch im russischen Fernsehen gesagt. Danach bekam sie Drohanrufe. Sie richteten sich auch gegen ihren 6jährigen Sohn. Jetzt hat sie Angst, den Sohn hat sie in die Ferien geschickt, sie selbst schläft jede Nacht an einem anderen Ort.

    Das Vorgehen der Ermittler im Fall 6. Mai steht in einer Reihe mit diversen restriktiven Maßnahmen gegen Regierungskritiker in Russland. In diesen Tagen beginnt das Verfahren gegen die Musikerinnen der Punkband Pussy Riot, die im Februar mit einer umstrittenen Aktion in einer Kathedrale gegen Putin protestiert hatten. Beobachter sagen, Putin ziehe die Daumenschrauben an. Alexander Iwanow engagiert sich im Komitee 6. Mai. Es ist ein loses Netzwerk Ehrenamtlicher, die den Häftlingen vom 6. Mai helfen. Iwanow spricht von politischen Prozessen.

    "Die Anschuldigungen gegen die meisten Angeklagten sind völlig aus der Luft gegriffen. Ich denke, die Ermittler wollen belastende Zeugenaussagen bekommen. Die Angeklagten, die in U-Haft sitzen, sollen gegen die bekannten Anführer der Opposition aussagen. Außerdem wollen sie die protestbereite Bevölkerung abschrecken.

    Heute Abend soll in Moskau eine Solidaritätskundgebung für die Gefangenen stattfinden. Auch in anderen Ländern sind Protestaktionen geplant.