Mittwoch, 24. April 2024

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Reihe: Gerechtigkeitsfragen im Theater
Schwarze gegen Weiße - Über koloniale Gräben

Heinrich von Kleists Novelle "Die Verlobung von St. Domingo" spielt vor dem Hintergrund des Sklavenaufstands in Haiti, dem früheren St. Domingo. Im Gespräch mit dem Dlf erläutert Regisseur Necati Öziri seine Umarbeitung zu einem Theaterstück, das rassistische Einstellungen sichtbar machen will.

Necati Öziri im Gespräch mit Mascha Drost. Einleitung: Christian Gampert | 20.04.2019
Die Verlobung in St. Domingo - Ein Widerspruch von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist Uraufführung Premiere am 4. April 2019, Schauspielhaus Zürich,Schiffbau/Box Regie Sebastian Nübling / Bühne Muriel Gerstner / Kostüme Pascale Martin / Musik Lars Wittershagen / Live-Kamera Robin Nidecker Mit: Maryam Abu Khaled Dominic Hartmann Kenda Hmeidan Dagna Litzenberger Vinet Falilou Seck Eine Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin
Die Verlobung in St. Domingo - Ein Widerspruch von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist am Schauspielhaus Zürich (Tanja Dorendorf / T+T Fotografie, Zürich)
Die Schwarzen müssen die Weißen emanzipieren! Denn die Weißen allein sind verloren in ihren rassistischen Konstruktionen.
Bei Necati Öziri liest sich "Die Verlobung von Santo Domingo" doch etwas anders als bei Heinrich von Kleist. Bei dem zieht Congo Hoango, "ein fürchterlicher alter Neger", wie es im Text heißt, als Anführer der aufständischen Mordbrenner über die Insel Haiti, und eine junge Farbige gewährt einem flüchtenden Offizier der französischen Besatzungs-Armee Unterschlupf und eine Liebesnacht.
Die zeitbedingten Rassismen, die bei Kleist 1811 so en passant auftauchen, werden von Öziri in einem großen Prolog nun dialektisch gewendet: "auch viele Kolonialherren unterstützen den Kampf der Schwarzen", teilt er dem heutigen, mit der Dritten Welt ja heftig sympathisierenden Publikum mit. Und man sehe durchaus: nicht nur der Unterdrückte leidet, sondern auch der Unterdrücker.
Allerdings gehe es für die Schwarzen zuerst darum, ihre eigene Sprache zurückzugewinnen. Und wer Gerechtigkeit wolle, der müsse auch bereit sein, "die Uniform des Wärters" anzuziehen. "Ich habe viel von den weißen Gefängniswärtern gelernt", heißt es in Öziris neuer "Verlobung von Santo Domingo", "jetzt lernen die Gefängniswärter von mir". Es sei Aufgabe der Schwarzen, die Weißen "von ihrem Joch zu befreien, von ihrer Schuld und Unmenschlichkeit".
Öziri diskutiert die Frage, ob von den schwarzen Jakobinern auch getötet werden muss – wahrscheinlich schon. Aber: "Tötet mit Verständnis!" so der Text. Wohlgesinnte Weiße können allerdings als Bürger in die Republik der Schwarzen aufgenommen werden…
Was bedeutet das für uns heute? Dass die Weißen sich besser benehmen sollen? Dass sie das Denken neu lernen müssen? Oder doch: Guerilla-Aktionen der Dritten gegen die Erste Welt? Aufstand des schwarzen Kontinents? Öziri lässt das alles in der Schwebe.
Mascha Drost: Die Verlobung in St. Domingo - ein Widerspruch. "Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist" heißt der Abend – an wen wendet sich der Widerpruch – das koloniale Erbe ist in dem Stück ja überdeutlich zu spüren – ein aufgeklärter Mensch, ein Theatergänger, weiß das – wozu also noch ein Widerspruch?
Necati Öziri: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das schon so offene Türen sind, die wir da einrennen. Als ich in meinem Germanistik-Studium mich mit diesem Text auseinandersetzen musste, durfte ich mir eigentlich von so ziemlich all meinen Profs anhören, dass das ja gar nicht so rassistisch ist und man das alles ganz ambivalent lesen kann – kann man natürlich auch –, und das ist auch ein Text, der nach wie vor uraufgeführt wird auf deutschen Bühnen, und zwar nicht in einer Überarbeitung, die sich mit den Widersprüchen und Ambivalenzen dieses Textes beschäftigt.
Das zweite, was mich interessiert hat, war: Okay, man weiß das alles. Aber was jetzt damit machen? Kann man diesen Text trotzdem irgendwie noch fruchtbar machen für eine Debatte heute?
Was Kleist nicht schrieb
Drost: Und wie offen ist dieses Stück für neue Zuschreibungen? Sie haben gesagt, es interessiert Sie, was Kleist weggelassen hat, was er alles nicht erzählt hat.
Öziri: Kleist lässt ziemlich viel weg, oder deutet die Sachen nur an. Angefangen bei den Namen der Figuren, die irgendwie Congo Hoango heißen oder so ein Kram, bis hin zu den Berufen oder den Vorgeschichten, den Motivationen. Eigentlich sind das mehr oder weniger nur Abziehbilder. Die komplexeste Figur ist noch die Mutter; da haben wir ein bisschen eine Vorgeschichte, wissen aber auch nicht wirklich viel darüber. Und über die Toni bei Kleists 14jähriger Hauptfigur wissen wir so gut wie gar nichts.
Ich habe versucht, genau da anzusetzen und Hintergrundgeschichten, Motivationen, Namen, Berufe und so weiter, alles zu erfinden, damit aus diesen Stereotypen dreidimensionale Menschen mit eigenen Motivationen werden.
Drost: Welche Stereotypen oder Rassismen, sagen wir besser, denen wir in dem Stück begegnen, sind denn zeitbedingt und welche haben bis heute überlebt, unterschwellig oder auch offensichtlich?
Von sehr schwarz bis ganz weiß
Öziri: Ziemlich eindeutig bei Kleist ist erst mal ein Prinzip von Loyalität, das an das Konzept von Hautfarbe gebunden ist. Congo Hoango ist bei Kleist in dem biologischen Sinne der schwarzeste sozusagen und spielt im Plot auch die Figur des bösen Monsters. Dann gibt es unterschiedliche graduelle Abstufungen in der Hautfarbe bis hin zu Toni, die fast weiß erscheint in manchen Momenten, und die wechselt dann am Ende auch die Seite und tut das Richtige, indem sie sich für das weiße Leben von Gustav einsetzt, die Revolution ihrer Eltern mehr oder weniger verrät und dann den tragischen Tod stirbt, weil sie das Richtige tut, aber trotzdem stirbt.
Drost: Je weißer desto besser?
Öziri: Ganz genau! Und dieses Konzept ist nicht mehr so explizit, aber findet sich natürlich in der heutigen Zeit immer noch wieder, dass wir unterschiedliche Abstufungen haben und dass wir unterschiedliche Grade von Rassismus erleben, je nachdem wie Menschen phänotypisch, rassifiziert und gelesen werden.
Die Verlobung in St. Domingo - Ein Widerspruch von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist Uraufführung Premiere am 4. April 2019, Schauspielhaus Zürich,Schiffbau/Box Regie Sebastian Nübling / Bühne Muriel Gerstner / Kostüme Pascale Martin / Musik Lars Wittershagen / Live-Kamera Robin Nidecker Mit: Maryam Abu Khaled Dominic Hartmann Kenda Hmeidan Dagna Litzenberger Vinet Falilou Seck Eine Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin
Szene aus "Die Verlobung in St. Domingo". Das Stück wurde am 4. April 2019 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. (Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)
Drost: In dem Stück geht es ja auch um Verwischung von Rasse und Individuum. Es gibt ja einige schlechte Weiße, die den berechtigten Zorn der Sklaven auf sich gezogen haben, und das gibt ja Gustav zu. Aber diese Verfehlungen einzelner werden nicht der ganzen Gruppe zugeschrieben, also den Weißen; anders bei den Schwarzen, wo immer wieder Stereotypen auftauchen. Ist das vielleicht die deutlichste Parallele zu heute?
Die Geschichte vom unschuldigen Schweizer
Öziri: Die deutlichste Parallele zu heute sehe ich persönlich, ähnlich wie Sie jetzt gesagt haben, in dem Ausschnitt, den Kleist wählt. Heutzutage ist ja viel entscheidender, über was man spricht, als was man sagt. Dass Kleist sich konzentriert auf den unschuldigen Schweizer, der irgendwie auf dieser Insel gelandet ist, als Hauptfigur noch nicht mal einen Franzosen nimmt, der zur Gesellschaft der Kolonialherren gehörte, das spricht schon für die Motivation, die dahinter war, nämlich den unschuldigen Weißen in den Vordergrund zu stellen, obwohl es viel repräsentativer gewesen wäre, einen Sklavenhalter oder sonst was zu nehmen. Allein durch das Framing, durch den Ausschnitt, den Kleist wählt, identifiziert man sich schon mit der unschuldigen weißen Figur.
Ich habe versucht, dem Ganzen einen Prolog, einen Epilog und ein historisches Setting oder einen Kontext vor- und anzustellen, damit klar wird, dass diese Gewalt, die Kleist so verurteilt, eigentlich nur eine Reaktion auf die Gegengewalt war.
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Drost: Bei Ihnen finden sich auch Sätze wie "Die Schwarzen müssen die Weißen emanzipieren, denn die Weißen allein sind verloren in ihren rassistischen Konstruktionen." – Ist das ein Widerspruch, mit dem Sie dieses Stück aufladen, als eine Art Empowerment?
Öziri: Die Sätze, die Sie jetzt gerade gesagt haben, sind im Prolog, wo einmal eigentlich das Anliegen des ganzen Abends, dieser Nacht, in der die Weißen umgebracht werden sollen, klargemacht wird. Es ist ein bisschen so, dass diese Texte dann häufig repräsentativ für mich oder für meine Position gelesen werden. Das ist natürlich totaler Quatsch. Das sagt eine Figur in meinem Stück. Aber es ist schon so, auch historisch, dass die ehemaligen Sklaven, die sich befreit haben, erst einmal versucht haben, in Briefen mit den Kolonialherren und den Sklavenhaltern zu sprechen. Und als sie verstanden haben, dass dieses Sprechen mit den Weißen keinen Sinn macht, ist eigentlich die Revolution erst losgegangen. Insofern sind solche Sätze wie "Wir müssen selber die Weißen dazu bringen, diese Gerechtigkeit zu verstehen und einzusehen" gar nicht so weit hergeholt.
Drost: Und was ist mit einem Satz wie "Nicht nur die Unterdrückten leiden, sondern auch die Unterdrücker."?
Öziri: Auch das würde ich dazuzählen.
Die Verlobung in St. Domingo - Ein Widerspruch von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist Uraufführung Premiere am 4. April 2019, Schauspielhaus Zürich,Schiffbau/Box Regie Sebastian Nübling / Bühne Muriel Gerstner / Kostüme Pascale Martin / Musik Lars Wittershagen / Live-Kamera Robin Nidecker Mit: Maryam Abu Khaled Dominic Hartmann Kenda Hmeidan Dagna Litzenberger Vinet Falilou Seck Eine Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin
"Ich widerspreche nicht nur Kleist und seinem Text, sondern es ist natürlich auch ein widersprüchliches Anliegen an sich", sagt Regisseur Necati Öziri. (Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)
Drost: Sie wollten auch mit solchen Aussagen an sich schon Widerspruch erzeugen?
Theorie der permanenten Dialektik
Öziri: Na ja, das ganze Vorhaben ist natürlich irgendwie paradox und damit ein Widerspruch. Ich widerspreche nicht nur Kleist und seinem Text, sondern es ist natürlich auch ein widersprüchliches Anliegen an sich. Irgendwie ist es ja auch eine Hommage und lässt diesem Text von Kleist eine neue Aufmerksamkeit widerfahren. Gleichzeitig reproduziere ich selber ganz viel, indem ich (Teil eines kapitalistischen Theatersystems) auch mich mit diesen Stoffen auseinandersetze, indem ich als männlicher Autor Frauenfiguren schreibe und so weiter und so weiter. Der einzige Weg da raus liegt, glaube ich, in der permanenten Dialektik, in dem immer weiter versuchen, immer weiter machen, das was ja auch die Hauptfigur Toni dann am Ende ausprobiert. Sie versucht unterschiedliche Schlüsse, probiert immer wieder, einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt zu finden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.