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Russland
Proteste gegen Gesundheitsreform

Russland reformiert sein Gesundheitswesen: Viele Krankenhäuser und Kliniken wurden neu ausgestattet. Aber wie bei vielen Reformen gingen auch Stellen verloren. Dagegen wollen die Ärzte in Moskau auf die Straße gehen, unterstützt von besorgten Bürgern.

Von Gesine Dornblüth | 28.11.2014
    Ein Doktor mit einem Patienten auf dem Weg zur Intensive-Care Unit (ICU) im russischen Regional Vascular Center zur Behandlung von Gefäßkrankheiten.
    Klinik in Russland: Gesundheitsreform sorgt für Proteste (picture alliance / dpa / Matytsin Valery)
    Der Platz der Revolution in Moskau. Im steinernen Rücken von Karl Marx demonstrieren Ärzte und Krankenschwestern. Russland reformiert sein Gesundheitswesen, steckt Milliarden in neue Gebäude und neue Geräte. Die Löhne der Ärzte aber bleiben gering. Irina, Fachärztin für Ultraschalluntersuchungen, arbeitet in einer Poliklinik am Moskauer Stadtrand. Die Polikliniken stammen noch aus Sowjetzeiten: ambulante Gesundheitszentren mit allen möglichen Fachärzten – und meist überfüllten Wartezimmern.
    "Ich habe etwa 20 Minuten pro Patient und etwa 15 Termine am Tag. Dazu kommen aber noch Notfälle, Leute ohne Termin. Und von September bis Mai haben wir zwei Mal pro Woche Schuluntersuchungen. Da kommen zwei Schulklassen am Tag zur Vorsorge, mit jeweils 35 Schülern. Bei jedem betrachte ich die Bauchhöhle, die Schilddrüse und die Geschlechtsorgane. Und ich muss die Daten eingeben. Dafür brauche ich eigentlich 30 bis 40 Minuten pro Person. Ich muss aber in fünf Stunden 60 Patienten abfertigen. Wenn ich abends nach Hause komme, habe ich das Gefühl, meine rechte Seite fällt ab. Alles tut weh."
    Irina ist alleinerziehend, hat zwei Kinder. Sie verdient umgerechnet rund 800 Euro im Monat - und das in einer der teuersten Städte der Welt. Sie kommt nur zurecht, weil ihre Mutter sie unterstützt. Im Urlaub war sie das letzte Mal vor fünf Jahren.
    Verschärfung der Arbeitssituation droht
    Nun droht eine weitere Verschärfung der Arbeitssituation. Im Zuge der Gesundheitsreform werden in Moskau viele Kliniken zusammengelegt. Die Regierung spricht von einer Optimierung. Wie immer in solchen Fällen gibt es Entlassungen. Kürzlich wurden Zahlen bekannt. Rund 15 Prozent der Stellen sollen wegfallen.
    Das sorgt nicht nur bei den Ärzten für Unruhe, sondern auch bei den Patienten. Die Ingenieurin Alla Frolova hat die Bewegung "Gemeinsam für eine menschenwürdige Medizin" gegründet. Die Moskauerin sagt, eine Gesundheitsreform müsse sein, aber:
    "Es geht um eine Kommerzialisierung der Medizin. Bei mir entsteht der Eindruck, der Staat handelt nach dem Motto: Der Stärkere überlebt. Manchmal kriege ich wirklich Angst."
    Artikel 41 der russischen Verfassung spricht jedem Bürger das Recht auf eine kostenlose Versorgung zu. De facto aber hat Russland längst eine Zwei-Klassenmedizin. Wer es sich leisten kann, geht in Privatkliniken.
    Neben Geld zählen Beziehungen. Beamte werden in eigenen Kliniken behandelt, ebenso Angehörige bestimmter Berufsgruppen. Die Behörden definieren Quoten für kostenlose Behandlungen. Doch die reichen oft nicht aus, daher gibt es lange Wartezeiten. Der russische Rechnungshof hat darüber hinaus festgestellt, dass städtische Gesundheitseinrichtungen einen Teil ihrer Betten und Geräte, die eigentlich der kostenlosen Versorgung vorbehalten sind, für private Patienten missbrauchen. Der Anteil der Menschen, die für ihre Behandlung bezahlen, sei im vergangenen Jahr um zwölf Prozent gestiegen. Eine beunruhigende Tendenz, findet Alla Frolova.
    "Wir sind ein Sozialstaat. Zumindest formal. Und in einem Sozialstaat müssen soziale Verpflichtungen eingehalten werden."
    Frolova hat für den kommenden Sonntag zu einer erneuten Protestdemonstration aufgerufen, gemeinsam mit den Ärzten. Auch diverse politische Gruppierungen wollen sich an der Kundgebung beteiligen.
    Putin reagiert auf Proteste
    Die Brisanz des Themas ist ganz oben an der Staatsspitze angekommen. Präsident Putin bezog letzte Woche bei einer Veranstaltung mit seinen Anhängern Stellung zu den drohenden Entlassungen.
    "Die Kollegen haben das wirklich nicht durchdacht. Sie handeln aus den richtigen Überlegungen heraus und in guter Absicht, aber man hätte das anders machen können. Wir haben deshalb mit der Moskauer Stadtregierung gesprochen."
    Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin kündigte kurz darauf Abfindungen für die zu entlassenden Ärzte an: umgerechnet bis zu 8.500 Euro pro Person. Sie sollen außerdem auf Staatskosten umschulen dürfen. Die Aktivistin Alla Frolova hält das für ein Ablenkungsmanöver. Die Regierung wolle die Ärzte nur vom Protestieren abhalten.