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Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch
"Wir sind Gefangene einer Kriegskultur"

Lob für die Kanzlerin, Kritik an Russland. Bei ihrem Deutschlandbesuch hat Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel als "vorausschauend und weise" bezeichnet. Mit der politischen Führung in Russland ging die 67-Jährige dagegen hart ins Gericht: Russland bewege sich "rückwärts".

Von Sabine Adler | 15.03.2016
    Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch
    Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch (dpa / picture-alliance / Anke Waelischmiller)
    Die CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel bekommt von unerwarteter Seite Lob und Anerkennung. Die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat gestern Abend bei ihrem Berlin-Besuch die hierzulande umstrittene Flüchtlingspolitik als vorausschauend und einzigartig bezeichnet.
    "Das ist strategisch weise von Merkel, weil es in den nächsten zehn, zwanzig Jahren noch Millionen Umwelt-Flüchtlinge geben wird. Wir werden uns daran gewöhnen und darauf vorbereiten müssen, mit Fremden zu leben. Das ist ein strategisches, sehr kluges Denken der Kanzlerin, das ich bei niemandem sonst sehe."
    Die Weißrussin ist einer breiten deutschen Öffentlichkeit mit ihrem "Tschernobyl"-Buch bekannt geworden. Die Erfahrungen nach dem ersten GAU, der sich am 16. April zum 30. Mal jährt, seien wertvoll für die Aufräumarbeiten heute in Fukushima.
    "Tschernobyl hat die Menschen wissender gemacht"
    "Ich habe Fukushima-Überlebende getroffen und mit Wissenschaftlern gesprochen. Bei Tschernobyl waren wir ahnungslos, die Regierung schickte Militärtechnik und Soldaten mit Waffen. Ich weiß noch, wie ich sie fragte, ob sie damit auf die Radioaktivität schießen wollen. In Fukushima hilft unser Wissen aus Tschernobyl sehr. Heute würde keiner mehr neben einem explodierten Reaktor angeln oder alles Hab und Gut, einschließlich der Einweckgläser mit Himbeeren, aus der verstrahlten Zone rausbringen. Es würde auch keiner mehr wie bei uns mit seinen Kindern nachts zum brennenden Reaktor fahren, weil das so besonders schön aussieht. Das Vertrauen in die Wissenschaft ist gesunken, der Fortschritt wird als eine andere Form von Krieg angesehen. Tschernobyl hat die Menschen wissender gemacht."
    Die 67jährige Nobelpreisträgerin schreibt auf Russisch, ist Kind eines weißrussischen Vaters und einer ukrainischen Mutter. Sie wünscht den ukrainischen Aktivisten des Maidan den Erfolg, der ihnen nach der Orangenen Revolution noch versagt blieb. Swetlana Alexijewitsch:
    "Russland bewegt sich rückwärts"
    "Die Ukraine hat das gemacht, was wir noch vor uns haben, wozu Russland und Weißrussland bislang nicht fähig waren. Die Ukraine hat jetzt zwei Feinde: Russland und den Feind im Inneren: die Korruption. Und ich weiß nicht, welcher schlimmer ist."
    Russland bewege sich ihrer Meinung nach rückwärts. In ihrer Heimat Weißrussland habe Präsident Lukaschenko die Zeit angehalten und damit dem Land eine Entwicklung wie im Baltikum zum Beispiel verwehrt. Zentrales Thema der Literaturnobelpreisträgerin, die nach wie vor in Minsk lebt, ist die Sowjetzeit, die "rote Zivilisation" wie sie sagt. Ihre Bücher will sie als eine Warnung vor der grausamen Utopie verstanden wissen. Swetlana Alexijewitsch:
    "Wir sind Gefangene einer Kriegskultur. Es geht nicht um Sowjetmentalität, bei uns gab es immer Krieg. Bürgerkrieg in der Revolution, zu Stalins Zeiten, der Zweite Weltkrieg, in den 90er Jahren erschossen sich die Geschäftsleute auf offener Straße, dann Tschetschenien, jetzt die Ukraine. Unser Fehler in den 90er Jahren war, dass wir auf die Straße gingen und Freiheit riefen und glaubten, allein daraus entsteht die Freiheit. Das Land war ein einziges großes Straflager und die Freiheit musste erst aufgebaut, erarbeitet, erklärt werden. So wie Putin das heute macht. Sein Programm wird massiv vom Fernsehen begleitet, das die Leute bearbeitet."
    Fast 40 Jahre hat sie über die Ex-Sowjetunion und deren Kriege geschrieben. Sie könne das Leid nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Deswegen arbeitet sie derzeit an einem Buch über die Liebe. Obwohl die auch nicht immer lustig sei.