Samstag, 13. April 2024

Archiv


Russland und die einmalige Chance

Am 3. Oktober werden sie gefeiert, die Wegbereiter der deutschen Einheit. Ein Name steht dabei immer in der ersten Reihe: Michael Gorbatschow. Der ehemalige Kremlchef hat versuchte, die Sowjetunion durch Glasnost und Perestroika zu reformieren. Und eröffnete auch allen anderen Ländern des Ostblocks einen politischen Weg - auch der DDR.

Von Robert Baag | 01.10.2010
    So hat am Ende der 80er-Jahre einmal eine Lovestory der besonderen Art begonnen: enthusiastische "Gorbi, Gorbi"-Rufe begeisterter Bundesbürger vor dem Rathaus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Der so Gefeierte, Michail Gorbatschow, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und mächtigster Politiker der östlichen Supermacht UdSSR, genießt auf dem Rathaus-Balkon die herzliche Zuneigung der Deutschen, die ihm und seiner Ehefrau Raissa so lautstark entgegenschallt. Dieser Michail Gorbatschow wird ihnen nach fast einem halben Jahrhundert der Teilung die Wiedervereinigung ermöglichen.

    Nur den Schlusspunkt in diesem historischen Prozess, den setzt ein anderer. Den setzt sein Nachfolger Boris Jelzin, als er Ende August 1994 vertragsgemäß die letzten russischen Soldaten aus Deutschland abzieht.

    "Deutschland wir reichen dir die Hand
    und kehr'n zurück ins Vaterland ..."

    "Proschtschaj Germania - Lebe wohl, Deutschland", schmettert damals die im exakten Marschtritt abrückende "Berlin-Brigade" auf Russisch und auf Deutsch. Freundschaft und Vertrauen solle künftig zwischen beiden Ländern die gemeinsame Basis sein, beschwören die Soldaten die gemeinsame Zukunft.

    Keine platte Propaganda, meint im Rückblick Alexander Tschepurenko, Soziologie-Dekan an der Moskauer Hochschule für Ökonomie:

    "Damals war in Russland eine sehr hohe Erwartung nach dem einigen Europa, nach dem großen Schulterschluss mit Deutschland, wurde das Zusammenwachsen von dem was eigentlich zusammengehört, eher wohlwollend angesehen."

    "Deutschland und das deutsche Volk waren lange Zeit Geiseln im Kampf zweier Supermächte - und zwar der östliche genauso wie der westliche Teil", erinnert sich aus Anlass des jüngsten Mauerfall-Jahrestages der heutige russische Ministerpräsident Vladimir Putin im russischen Fernsehsender NTW. Ende der 80er-Jahre als Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Dresden stationiert, sei ihm klar gewesen, dass die Teilung eines Volkes keine Perspektive gehabt habe. Und: "Das hätte man von Anfang an nicht tun sollen!"

    Deutschland, die alte Bundesrepublik, sei damals im Wortsinn "zu billig" davon gekommen, sind schon 1990, aber manchmal auch heute noch, vereinzelte kritische Stimmen zu hören. 15 Milliarden D-Mark, das sei doch ein Schnäppchenpreis für die wiedergewonnene Einheit, hat noch vor Kurzem Ex-General Matwej Burlakow räsoniert, der letzte Oberbefehlshaber der einstmals in der DDR stationierten Sowjettruppen:

    "Es waren sogar nur zwölf Milliarden. Schon ein bisschen sehr wenig! Noch ein paar zehn Milliarden hätte man denen damals herausleiern sollen. Aber leider, leider ... Um dieses Geld zu kämpfen, da hat's damals halt an den entsprechenden Leuten gefehlt!"

    "Hinterher ist man immer klüger!", lautet Putins Antwort auf die Frage, ob er anders als Gorbatschow gehandelt hätte:

    "Was ich anders gemacht hätte, werde ich nicht sagen. Es ist geschehen, was geschehen musste. Das größte Plus dieses ganzen Prozesses damals: Eine neue Qualität in unseren Beziehungen mit Deutschland hat sich entwickelt, ein Gefühl des Vertrauens und der Dankbarkeit. Das ist ein Grundstein in unserem bilateralen Verhältnis, auf dem heute unsere Zusammenarbeit aufbaut."

    Vor allem den Begriff Dankbarkeit greift der Soziologe Alexander Tschepurenko auf, um die insgesamt anhaltend positive Einstellung vieler Russen gegenüber Deutschland und den Deutschen einschränkend zu beschreiben:

    "Es gibt jetzt zunehmend in der russischen Gesellschaft eine interne Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Es herrscht ein grundsätzlicher Konsens: Es ist natürlich der Sieg im Vaterländischen Krieg. Insofern wird auch indirekt erwartet, dass Deutsche, nachdem sie vom Hitler-Regime von der Roten Armee als auch von den Alliierten befreit worden sind, eigentlich diesen Alliierten dankbar sein sollten."

    Aber, so Tschepurenko:

    "Das, was insbesondere in den letzten Jahren im Film, im Fernsehen, (über-)tragen wird in Deutschland über die Vergewaltigungen und über Raubtaten und so weiter - das wird mit sehr starkem Widerwillen gesehen. Andererseits werden viele Stellungnahmen, insbesondere der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber dem Stasi-Staat, der Bevormundung, eher wahrgenommen - mit der Begründung: Ja, uns ging es auch so!"