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Russlanddeutsche
Chronik einer Minderheit

Im 18. Jahrhundert siedelten zahlreiche Deutsche nach Russland über. Katharina die Große, die deutschstämmige Zarin, hatte für sie wirtschaftliche Anreize wie befristete Steuerfreiheit geschaffen. Der Schriftsteller und Historiker György Dalos zeichnet in seinem neuen Buch die Chronik dieser deutschen Minderheit bis in die Gegenwart nach - über den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution und die stalinistische Diktatur bis hin zur Perestroika, die für viele eine Ausreise nach Deutschland ermöglichte.

Von Gemma Pörzgen | 15.09.2014
    Der ungarischstämmige Schriftsteller György Dalos ist durch seinen Lebensweg Russland und Deutschland gleichermaßen verbunden. Er studierte in den 60er-Jahren Geschichte in Moskau und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Dank Dalos Kenntnis beider Kulturen ist dem Buch ein ganz eigener Blick auf den Schicksalsweg dieser deutschen Minderheit anzumerken. Seine "Geschichte der Russlanddeutschen" schlägt den Bogen vom 18. Jahrhundert, als unter Katharina der Großen immer mehr Deutsche nach Russland einwanderten, bis in die Gegenwart. Dabei ist während der Lektüre zu spüren, was den Autor an diesem vernachlässigten Teil der deutschen Geschichte fasziniert:
    "Mich zog an diesem Buch an, erstens meine, ich würde sagen, Empfindlichkeit für nationale Minderheiten, besonders in großen Reichen. Das Zweite ist natürlich meine Anziehung zur deutschen Kultur und zur deutschen Geschichte. Und es ist nicht zu vergessen, dass ich bereits in meinem Buch über Michail Gorbatschow versucht habe, die wirkliche Schwachstelle der Sowjetunion zu finden. Und ich glaube, die wirkliche Schwäche dieses Imperiums lag in der Unfähigkeit oder sogar Unmöglichkeit, die verschiedenen nationalen Gruppen miteinander in irgendwelchen Einklang zu bringen."
    Es war die Zeit von Glasnost und Perestroika, die für die Russlanddeutschen die Grenzen öffnete und ihnen die Ausreise möglich machte. Viele von ihnen verstanden die Ankunft in Deutschland als eine Rückkehr in die Heimat. Denn die Familien pflegten ihre deutsche Kultur und Sprache immer weiter, obwohl die Sowjetmacht alles dafür tat, das zu unterdrücken. Dalos erzählt von den Pogromen, der schweren Hungersnot und von der Gründung der Wolgadeutschen Republik auf der Landkarte der UdSSR im Jahr 1922. Nachdrücklich schildert der Autor, wie die deutsche Minderheit den Großen Terror unter Stalin und schließlich ihre Deportation während des Zweiten Weltkrieges erleben musste.
    "Die Züge rollten und die unendlich erscheinende Reise forderte bereits ihre Opfer. Einerseits funktionierte die militärisch organisierte Bürokratie einwandfrei: Fast kein Sowjetdeutscher entging in dem nicht okkupierten Teil des Landes seinem ethnisch besiegelten Schicksal. Deutsche Soldaten und Offiziere wurden ungeachtet ihrer Verdienste aus der Roten Armee entfernt und zum Verbannungsort ihrer Familien geschickt. Selbst noch aus dem von der Wehrmacht umzingelten und hungernden Leningrad mussten die Deportierten über den eingefrorenen Lagodasee ('Weg des Lebens') an ihren Verbannungsort fahren. Die andere Seite dieser militärischen Perfektion zeigte sich im Extremfall als Katastrophe: Die Vertreibung der Deutschen aus der Ostukraine verlief parallel zum fluchtartigen Rückzug der Roten Armee."
    Das Buch gerät bei der Lektüre nie zur trockenen Geschichtsstunde, sondern dokumentiert eindringlich die Erfahrungen vieler russlanddeutscher Familien:
    "Trotz all dieser Tragödien verlief der Transport von der Wolga mit insgesamt 800.000 Personen bis zum Jahresende 1941 'ohne nennenswerte Zwischenfälle und mit relativ wenigen Opfern'. Die etwa 1490 Toten waren mehrheitlich Säuglinge, Kleinkinder und Lungenkranke. Sie wurden meist unterwegs, wenn der Zug hielt, in der Nähe einer kleinen Station verscharrt. Aber nicht nur das Ende, sondern auch der Anfang des Lebens verlief mitunter qualvoll und menschenunwürdig. Acht schwangere Frauen mussten während der Fahrt die Entbindung, 'unter unsanitären Bedingungen', also auf dem Boden des Waggons, hinter sich bringen."
    Die Angehörigen der deutschen Minderheit wurden damals in der Sowjetunion als Kollaborateure des Hitler-Regimes diffamiert. Dieses Schicksal wurde in der Bundesrepublik Deutschland von weiten Teilen der Bevölkerung lange nicht anerkannt. Der aus einer jüdischen Familie stammende Ungar Dalos findet dafür folgende Erklärung:
    "Ich glaube, es gibt grundsätzliche Mängel in Deutschland, Mängel an Kenntnissen über Deutsche, die nicht aus Deutschland kommen. Das war für mich verblüffend in den 80er-Jahren, als ich eine Zeit lang in West-Berlin lebte, und da kam Herta Müller nach Deutschland und Richard Wagner. Und bei den Lesungen stellte man ihnen die Frage, wieso sie so einwandfrei deutsch sprechen, obwohl sie aus Rumänien kommen. Vielleicht lag das auch an der Angst vor dem Revanchismus, die Angst, die teilweise begründet war, weil in den 50er-Jahren als dieses Problem noch sehr aktuell war, war das natürlich auch ein Teil des Kalten Krieges. Trotzdem glaube ich, dass diese große Menge von Deutschen außerhalb von Deutschland Teil der deutschen Geschichte sind und natürlich auch die Rückwanderung von Millionen von Deutschen in die Bundesrepublik. Das ist ein Teil der Wiedervereinigung."
    Dalos hat eine Geschichte der Russlanddeutschen geschrieben, die nicht durch seine gute Auswertung zum Teil neu entdeckter historischer Quellen besticht, sondern auch durch solche prägnanten Thesen. Im Vergleich zu früheren Abhandlungen profitiert dieses Werk zudem davon, dass der Schriftsteller präzise und empathisch zu erzählen weiß. Sein Epilog ist gerade angesichts der aktuellen Konfrontation mit Russland ein ermutigender Ausklang:
    "Sollte man dem 'ehemaligen Volk' der Russlanddeutschen einen vorsichtigen Rat geben? Wenn überhaupt, dann nur einen: Neben ihrer direkten Traditionspflege, die sich virtuell in einer weit verzweigten Internetpräsenz artikuliert, sollten sie die russische Komponente ihrer Vergangenheit nicht einfach auf die Kochkünste oder das Medienangebot ihrer früheren Heimat reduzieren. Schließlich sind sie eine große Gruppe von "westlich gewordenen" Deutschen, die über eine direkte und sehr intensive Erfahrung mit dem "Osten" verfügt. Das Russische ist ihnen ein Kapital, das mittel- und langfristig bei der Annäherung zwischen Deutschland und Russland sehr nützlich sein kann."
    Vielleicht vermag Dalos Buch dazu beizutragen, für diese historische Verbindung mehr Verständnis zu wecken.
    György Dalos: "Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart"
    Übersetzung: Elsbeth Zylla. C.H. Beck Verlag. 330 Seiten, 24,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-67017-6