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Russlanddeutsche vor der Wahl
AfD-Wähler und Flüchtlingsfeinde?

Viele Russlanddeutsche fühlen sich von der Politik vergessen und kritisieren die Flüchtlingspolitik. Wenn sie wählten, machten sie ihr Kreuz bei der CDU. Wegen des aktuellen Unmuts wandern jetzt viele zur AfD ab. In Marzahn-Hellersdorf hat die SPD daher bewusst einen russischstämmigen Bundestagskandidaten aufgestellt.

Von Claudia van Laak | 08.09.2017
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    Die SPD in Marzahn-Hellersdorf hat bewusst den russischstämmigen Dmitri Geidel als Bundestagskandidaten aufgestellt (dpa/picture alliance/ Britta Pedersen)
    Russischer Tanztee alle zwei Wochen freitags im interkulturellen Zentrum Babel e.V. in Hellersdorf. Viele haben sich Essen von zuhause mitgebracht: russisches Konfekt, in Fett gebackene Apfelküchlein, draußen im Hof brutzelt das Schaschlik auf dem Grill, drinnen bewegen sich betagte Damen zu russischem Pop - manche dezent, manche etwas schwerfällig.
    Mit Deutsch kommt man hier nicht weit, viele winken ab, obwohl sie seit über 20 Jahren in Berlin leben. Deshalb stellt sich SPD-Kandidat Dmitri Geidel auch auf Russisch vor - das kommt definitiv besser an. Sozialdemokrat Geidel, 27 Jahre alt, Typ netter Schwiegersohn von nebenan, ist in St. Petersburg geboren. Er studierte Jura, promoviert an der Humboldt-Universität und will jetzt in den Bundestag:
    "Es gibt hier keine russlanddeutsche Lobby. Überlegen Sie, wenn ich der erste bin, der da in den Bundestag einzieht, heißt das, die letzten 25 Jahre hat sich im Bundestag niemand darüber Gedanken gemacht. Woran liegt das? Weil leider unsere Leute hier in Deutschland zu selten zu Wahlen gehen und sich leider zu wenig engagieren."
    Vor Dmitri Geidel sitzt Karl Lehmann, ein grimmig blickender, weißhaariger Herr. Er ergreift sofort das Mikrophon, schimpft los - auf die Flüchtlinge, die Merkel ins Land geholt habe und die hier nichts zu suchen hätten:
    "Sie sind hier nicht geboren, das sind keine Deutschen. Sie nehmen sie auf, egal ob sie Deutsch sprechen oder nicht. Und wir Russen hier, alle Verwandte, müssen alle Deutsch sprechen. Und das ist ein Grund, sie nicht aufzunehmen, sie kennen die deutsche Sprache nicht."
    Deutschen Medien wird nicht vertraut
    Dass all seine Landsleute um ihn herum ebenfalls kein Deutsch sprechen, hält Karl Lehmann nicht davon ab, weiter lautstark gegen die neu zugewanderten Ausländer zu protestieren. Wir Russlanddeutschen dürfen unsere Verwandten nicht nachholen, die Flüchtlinge dagegen dürften das, behauptet er:
    "Alle Verwandten hier rübernehmen nach Deutschland - was ist los? Sind die alle bescheuert hier? Beleidigung. Große Beleidigung. Wie sie uns hier behandeln."
    Dass gerade syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ihre Familien nicht nach Deutschland holen dürfen, das will Karl Lehmann partout nicht glauben. Überhaupt: den deutschen Medien vertraut er nicht. Gab es da nicht das russlanddeutsche Mädchen Lisa aus Marzahn, das von Flüchtlingen vergewaltigt wurde? Die deutschen Medien hätten das verschwiegen, nur die russischen hätten berichtet. Eine Falschmeldung, stellte sich später heraus: Lisa hatte sich die Geschichte nur ausgedacht.
    Irma Kelm, Schulleiterin aus Kasachstan, versucht eine Erklärung: "In diesen Familien gibt es ein großes Problem. Die Menschen, die kein Deutsch sprechen, auf die haben die russischen Medien schon einen großen Einfluss. Und wenn sie keine Arbeit haben, dann sitzen sie zuhause und sehen sich russisches Fernsehen an. Und deshalb ist der Einfluss schon groß, ja."
    Integration gab es damals nicht
    Karl Lehmann zetert weiter, SPD-Kandidat Geidel lächelt beschwichtigend. Der 27-Jährige kennt die Gemütslage seiner Landsleute. Auch die Probleme, wenn sie pflegebedürftige Angehörige nach Deutschland holen wollen. Viele sind finanziell nicht dazu in der Lage, fühlen sich von der Politik vergessen:
    "Und da kann man von Isolation sprechen, dass man sich zurückzieht in seinen Bereich. Gleichzeitig gibt es da einen Sozialneid gegenüber Flüchtlingen, denen es jetzt, aus deren Sicht, einfacher gemacht wird. Denn all das, was die Flüchtlinge bekommen, gerade was Integration angeht, das gab es damals nicht. Warum kriegen die es so einfach, wenn es für uns damals so schwer war."
    Ortswechsel - vom Plattenbaugebiet Hellersdorf in die historische Mitte Berlins. Im Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße - einst Berlins prächtigste Synagoge - baut Dmitri Belkin gerade eine Ausstellung auf: "Babel 21, Migration und jüdische Gemeinschaft".
    Vorwurf an die Gesellschaft
    Belkin, in der Ukraine geborener Historiker, arbeitet beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. Es fördert besonders begabte jüdische Studentinnen und Studenten. Viele kommen wie Belkin selber aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Hier werden wir alle in einen Topf geworfen und sind "die Russen", klagt der 45-Jährige und kritisiert die Medienberichterstattung vor der Bundestagswahl:
    "Dass sie mit großer Freude in der Vorwahlzeit sozusagen eine Gruppe gefunden haben, nämlich die Russen oder die Russlanddeutschen. Sie haben gesagt, jetzt gucken wir mal, ob die vielleicht tatsächlich rechts wählen. Da gehen wir und suchen. Und das halte ich für blöd, das ist auch politisch gefährlich."
    Ein großes Integrationsmissverständnis?
    Die Ausstellung "Babel 21" zeigt auch die Installation "Verwaltungsraum". Wie erlebten Russlanddeutsche und auch russische Juden ihre Ankunft in Deutschland? Unverständliches Bürokratendeutsch plus verheißungsvoller Konsum in Form von Nutella und Schokoriegeln. Und dann vergaß Deutschland sofort seine Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, sagt Dmitri Belkin:
    "Plötzlich sieht man, dass man dieses vergessene Milieu nach 25 Jahren irgendwie entdeckt. Und dann merkte man: He, das ist das erste Mal seit 25, 30 Jahren. Aber das entsteht jetzt vor der Wahl am 24. September, damit sie bloß nicht falsch wählen. Und daran sieht man, wie Politik funktioniert. Und das kann man auch der deutschen Gesellschaft vorwerfen. Wo wart Ihr früher?"
    Alles ein großes Integrationsmissverständnis? Die nächste Generation will es besser machen. Wenn der neue Bundestag über die Probleme des Familiennachzugs von Russlanddeutschen debattiere, sei schon viel gewonnen, sagt SPD-Kandidat Dmitri Geidel.