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Russlands Sicht der Dinge

Das geplante US-Raketenabwehrsystem in Osteuropa könnte neuen Streit mit Russland bringen. Russland nämlich möchte bei diesen Planungen mitreden, fordert Verhandlungen "auf Augenhöhe". Um sich Gehör zu verschaffen, schlägt der russische Präsident auch mal härtere Töne an.

Von Robert Baag | 08.06.2011
    Die Luft im Pressepavillon der russischen Delegation beim jüngsten G8-Gipfel im französischen Badeort Deauville ist stickig. Zu den sommerlichen Temperaturen tragen noch die gleißenden Fernsehschweinwerfer ihr gerüttelt Maß Anteil an Hitzegraden bei. Doch trotz glitzerndem Schweißfilm auf der Stirn gibt Russlands Staatspräsident Dmitrij Medvedev sich demonstrativ aufgeräumt und locker. Nur als ein bestimmtes Reizwort fällt, ist es mit seiner guten Laune vorbei: "Evro-PRO" - das russische Kürzel für den geplanten US-Raketen-Abwehrschild in Europa. Da rückt Medvedev sein Kinn nach vorn:

    "Ich bin bislang nicht sehr zufrieden mit der Reaktion auf meine Vorschläge von Seiten der Amerikaner und der NATO-Länder"," meint Medvedev, um dann sofort nachzulegen:

    ""Wenn wir, was ich nicht möchte, bei diesem Thema zu keinem Verhandlungsergebnis kommen, dann wird wohl bald von einem verstärkten Ausbau unserer Nuklearwaffen die Rede sein müssen. Das wäre ein sehr schlechtes Szenario. Das würde uns in die Epoche des Kalten Kriegs zurückwerfen. Das könnte alles verderben, was wir in den vergangenen Jahren zustande gebracht haben - inklusive unseres gemeinsam verabschiedeten Vertrags zur Begrenzung nuklearer Angriffswaffen. Dort steht nämlich ganz klar: Wenn der Raketen-Abwehrschild entwickelt wird und sich dadurch die strategische Balance zu unseren Ungunsten verändert, kann dieser Vertrag gestoppt oder sogar beendet werden."

    Russland will als eigenständiger Spieler "auf Augenhöhe" an diesem US-Projekt unter Beteiligung der NATO dabei sein. Doch Moskaus Vorschläge, in einer gemeinsamen Kommandostruktur mit allen Befugnissen und Rechten vertreten zu sein, hat die Allianz in dieser Form ebenso abgelehnt wie das russische Alternativangebot, den Luftraum über Europa in zwei Sektoren aufzuteilen: Die eine Hälfte würde Russland dann in Eigenverantwortung vor feindlichen Raketenangriffen etwa aus dem Mittleren oder Nahen Osten schützen wollen.

    Für die mehr als zurückhaltende Reaktion der NATO hat der Militärexperte Aleksandr Gol'c vom Moskauer "Ezhednevnyj Zhurnal" allerdings volles Verständnis:

    "Russland verfügt heute überhaupt nicht über solch ein Abfangsystem, das diesen gigantischen geografischen Raum abdecken könnte","

    … sagt Gol'c. Und auch das Modell einer von den USA, der NATO und Russland mit paritätischen Vollmachten gemeinsam betriebenen Kommando- und Feuerleitzentrale sei im Ernstfall völlig unrealistisch:

    ""So eine Rakete fliegt 20, 25 Minuten. Und dass während dieser Zeit in der Kommandozentrale dann irgendwelche politischen Abstimmungsgespräche zwischen Russland und der NATO beginnen könnten, ist - na, ja - wohl kaum wahrscheinlich."

    Von einer angeblich drohenden nuklearstrategischen Ungleichheit zuungunsten Russlands könne ebenso nicht die Rede sein, widerspricht Gol'c. Selbst wenn die USA - theoretisch! - Russland mit Atomraketen angreifen wollten, wäre nie auszuschließen, dass dennoch einige russische Kernwaffenträger den Schutzschirm in einem Zweitschlag durchdringen und verheerende Schäden in Amerika anrichten. Kein US-Präsident würde wohl dieses Risiko auf sich nehmen. - Medvedews laute Warnung vor einem möglichen neuen Wettrüsten sieht Gol'c gelassen - nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen:

    "Das ist eine leere Drohung! - Erinnern wir uns: Die Sowjetunion ist auch deswegen untergegangen, weil sie damals trotz Wirtschaftskrise Ronald Reagans 'Krieg der Sterne'-Projekt Ernst genommen und sich damit kaputt gerüstet hat."

    Gol'c, der als einer der bestinformierten russischen Rüstungsexperten gilt, hält die ganze Aufregung der Moskauer politischen Klasse um die westlichen Raketenabwehrpläne für reinen Theaterdonner - übrigens nicht zuletzt wegen der bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen:

    "Wir fantasieren uns halt bestimmte Bedrohungen herbei"," … meint er ironisch, ""um dann mit militärischer Rhetorik klar machen zu können, wie sehr uns der Westen auf die Nerven geht."