Mittwoch, 24. April 2024

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Sachbuch-Bestsellerliste
"Toleranza zero"

Der Mai ist geprägt von Kämpfen: Gegen Verdummung, gegen Überwachung und auch gegen das Thema des eigenen Buches. Immerhin singt der Erstplatzierte ein Loblied auf die Gelassenheit.

Von Denis Scheck | 30.05.2014
    Bücher liegen am 23.04.2014 zum Welttag des Buches in der früheren Stadtbibliothek in Calbe/Saale (Sachsen-Anhalt) auf einer Waage. In der im Jahr 1911 eröffneten und Ende 2012 geschlossenen Bibliothek findet täglich ein Flohmarkt statt. Dabei wird der Bestand der Bücherei nach Gewicht verkauft. Bisher wurden 19.869 Medien veräußert.
    Im Mai hätte Denis Scheck auf locker ein Kilo Bestseller verzichten können. (dpa picture alliance/ Jens Wolf)
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
    Wie den aktuellen Papst überzeugt auch dieses Gehirn immer mehr die Vorzüge einer Politik der "toleranza zero" ...
    "You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee."
    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch, diesmal mit Büchern von Historikern und Hofschranzen, intellektuellen Pfahlsitzern, Modeschöpfern und Modephilosophen, Welterklärern und Witzemachern sowie einem bedrückenden Beispiel, wohin die Wege von Versagern im Deutschunterricht führen.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen saftige 3977 Gramm auf die Waage: zusammen 3312 Seiten.
    Platz 10) Peter Wensierski: "Die verbotene Reise" (DVA, 256 S., 19,99 Euro)
    Dieses Buch erzählt die Geschichte zweier DDR-Bürger, die beseelt von der Erkenntnis, dass man Freiheit nie geschenkt bekommt, sondern sie sich nehmen muss, immer weiter Richtung Osten reisen, bis sie in China schließlich vor der Frage Rückkehr in die Diktatur oder Ausreise in den Westen stehen. Eine starke Geschichte, dennoch ein schwaches Buch, weil es eben nicht die Spur vom Mut seiner Figuren aufbringt, sondern phantasielos in einer klischeestrotzenden Sprache erzählt ist.
    Platz 9) Jenke von Wilmsdorff: "Wer wagt, gewinnt" (Bastei Lübbe, 272 S., 14,99 Euro)
    Lange habe ich keinen so tiefen Ekel mehr empfunden wie vor dieser narzisstischen Kraftprotz-Prosa eines angeblichen Reporters, deren schlimmste Drohung der Satz ist: "Ich weiß, was Sie jetzt denken."
    Der Autor verrät, dass ihm ein wohlmeinender Deutschlehrer in der Schule einmal den Rat gab: "Also von der deutschen Sprache solltest du, zumindest beruflich, besser die Finger lassen." Leider hat sich Herr von Wilmsdorff nicht daran gehalten, sondern eine Karriere eingeschlagen, die er folgendermaßen zusammenfasst: "Heute habe ich zwei eigene Sendungen ... bin glücklicher Gewinner diverser Medienpreise und für die Zuschauer zu einem ernst zu nehmenden Fernsehjournalisten geworden. Mehr geht nicht!" Hier irrt der Autor. Dennoch taugt dieses Buch durchaus zur Schullektüre: Als Warnung vor dem neuen geistigen Medienprekariat.
    Platz 8) Andreas Englisch: "Franziskus - Zeichen der Hoffnung" (C. Bertelsmann, 433 S. 19,99 Euro)
    Auch in seinem neuen, bestenfalls eine wirre Anekdotensammlung zu nennenden Machwerk verwechselt der Boulevardschreiber Andreas Englisch sein unappetitliches Schnüffeln am Rock des neuen und des alten Papstes mit Journalismus.
    Platz 7) Christopher Clark: "Die Schlafwandler" (Deutsch von Norbert Juraschitz, DVA, 896 S., 39,99 Euro)
    Kann ein Buch seine Leser wirklich klüger machen? Vermutlich nicht, aber mit diesem veritablen Meisterwerk des australischen Historikers Christopher Clark über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs wird jeder Leser eine spannende Beobachtung treffen können: Alles wahrhaft Vortreffliche, ob in der Musik, in der Kunst oder eben auch in der Literatur, bringt sein Publikum auf ein vorher nicht gekanntes Niveau.
    Platz 6) Volker Weidermann: "Ostende 1936 - Sommer der Freundschaft" (Kiepenheuer & Witsch, 160 S., 17,99 Euro)
    Dieses Buch hat auf einer Sachbuchbestsellerliste nichts verloren, denn es arbeitet vorwiegend mit fiktionalen Mitteln und gehört daher in die Belletristik-Liste. Weil der Autor sein Handlungspersonal von Joseph Roth bis Stefan Zweig aus den Besten der deutschen Exilliteraten requiriert, ohne auch nur im Ansatz über deren literarische Potenz zu verfügen, entsteht eine große Fallhöhe zwischen den glanzvollen Namensträgern und dem, was dieser Text sie tun, empfinden und vor allem denken lässt. Mit anderen Worten: Es genügt nicht, das Krokodil im Kasperletheater einfach Drache zu nennen, um aus einem Kasperle einen Siegfried zu machen.
    Platz 5) Dieter Hildebrandt: "Letzte Zugabe" (Blessing Verlag , 272 S., 19,99 Euro)
    Dieter Hildebrandt war ein bedeutender Kabarettist, ein bedeutender Buchautor war er leider nie. Auch diese postum erschienene Sammlung letzter Texte ist leider bloß Stückwerk und Hoppelpoppel. Aber wer liest, was Hildebrandt etwa über Merkels Herum-Laviererei in der NSA-Affäre schreibt: "Anhand dieser Whistleblower-Causa ist jetzt bewiesen worden, dass der Mensch doch nicht vom Affen abstammt, sondern: von der Duckmaus", der wird die Größe von Hildebrandts Verlust neu ermessen.
    Platz 4) Guido M. Kretschmer: "Anziehungskraft" (Edel Books, 237 S., 17,95 Euro)
    Auf der Buchseite schrumpft der enorme persönliche Charme des Modeschöpfers und Einkaufsberaters Guido M. Kretschmer wie ein bei 90 Grad gewaschener Seidenschal. Was bleibt, ist das unansehnliche und fadenscheinige Kostüm eines Lappenclowns.
    Platz 3) Glenn Greenwald: "Die globale Überwachung" (Deutsch von Thomas Wollermann, Maria Zybak und Robert A. Weiß, Droemer Verlag, 368 S., 19,99 Euro)
    Ein wichtiges Buch. Sollte irgendwem noch ein Fitzelchen Vertrauen in die Überwachungskrake USA zurückgeblieben sein, der Journalist Glenn Greenwald wird es erschüttern. Die Lektüre beunruhigt, weil sie zeigt, wie Geheimdienstmitarbeiter und Politiker ihre eigenen Bürger belogen und getäuscht haben. Sie ermutigt aber auch, weil die US-amerikanische Gesellschaft Menschen wie Edward Snowden hervorbringt, die unter Verzicht auf eigene Vorteile diesen Missbrauch öffentlich machen.
    Platz 2) Roger Willemsen: "Das Hohe Haus" (S. Fischer Verlag, 400 S.,19,99 Euro)
    Schön, wenn ein talentierter Autor mit einem großen Thema ringt, wie hier Roger Willemsen mit seinem Bericht, was ihm während eines Sitzungsjahrs an den Debatten im Deutschen Bundestag aufgefallen ist. Nur leider gewinnt in diesem langweiligen Buch eindeutig das Thema.
    Platz 1) der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch: Wilhelm Schmid: "Gelassenheit" (Insel Verlag, 118 Seiten, 8,00 Euro)
    Gelassen wie der an Blümlein schnuppernde Stier Ferdinand muss ich ein Loblied auf dieses kleine Brevier gegen den grassierenden Altersrassismus singen: Mit von Meister Eckart bis David Bowie reichenden Gewährsleuten fallen Wilhelm Schmid gute Argumente ein, warum wir nicht uns nicht den Forever-Young-Pfeifen anschließen sollten, sondern unserem Altern mit großen Erwartungen entgegensehen dürfen.