Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Sachbuch
Ein Notfall planetarischen Ausmaßes

Der Brite Stephen Emmott, 1960 geboren, ist Klimaforscher, Oxford-Professor für Computerwissenschaften und Leiter eines Microsoft-Labors. 2012 gelang ihm mit seinem Bühnenstück "Ten Billion" (Zehn Milliarden) ein Sensationserfolg in London. In seinem gleichnamigen Buch zeichnet er ein düsteres Bild der Zukunft des Menschen: Emmott glaubt, dass die Erde und ihre Bewohner nicht zu retten sind.

Von Thomas Palzer | 08.05.2014
    Zehn Milliarden Menschen werden vermutlich am Ende dieses Jahrhunderts auf der Erde leben - vor 50 Jahren waren es noch drei Milliarden. Dazwischen befinden wir uns in der Gegenwart und produzieren in zwölf Monaten mehr Ruß als im gesamten Mittelalter.
    "Millionen von Arten leben auf unserer Erde", steht auf Seite 8 von Stephen Emmotts Sachbuch-Schocker "Zehn Milliarden". Auf der Seite daneben steht: "Nur eine beherrscht sie. Wir."
    Stephen Emmott hat sein Buch, das auf dem gleichnamigen erfolgreichen Theaterstück basiert, ein bisschen wie eine Power-Point-Präsentation angelegt. Manchmal steht auf einer Seite nur ein einziger Satz oder es stehen dort deren zwei. Und darauf folgt dann auf einer Doppelseite ein Foto, welches das gerade Gesagte mit mehr als tausend ungedruckt gebliebenen Worten unterstreicht. Zum Beispiel eine Reifendeponie bei Stockton, Kalifornien. Sieht aus wie auf dem Mars. Oder Emmott präsentiert uns ein Diagramm, das eindrücklich zeigt, dass wir uns auf direktem Weg in den Abgrund befinden. Haben wir noch eine Zukunft?
    9.000 Liter Wasser für einen Schlafanzug
    "27.000 Liter Wasser werden ungefähr benötigt, um ein Kilo Schokolade herzustellen. Das sind ungefähr 2.700 Liter pro Tafel. Daran sollten sie denken, wenn Sie es sich das nächste Mal im Schlafanzug auf dem Sofa gemütlich machen und Schokolade futtern. Aber auch in puncto Schlafanzug habe ich schlechte Nachrichten für Sie: So leid es mir tut, aber zur Herstellung Ihres Baumwollschlafanzugs waren ebenfalls 9.000 Liter Wasser notwendig ... Wir konsumieren Wasser genau wie Nahrungsmittel in einem Ausmaß, das völlig untragbar ist."
    Wissen wirkt nicht nur rekursiv, es kann durch die Prognosen, die sich davon ableiten, falsifiziert und als nur vermeintliches Wissen entlarvt werden. Wenn man uns sagt, dass jede dritte Ehe geschieden wird, erhöht sich unsere Bereitschaft, sich scheiden zu lassen. Warnungen warnen uns also nicht nur, sie können sogar im Gegenteil dazu beitragen, dass wir uns in trügerischer Sicherheit wiegen. Wir lassen uns gewissermaßen vorsorglich scheiden.
    Wenn wir nun wissen, dass manche der Katastrophen, die der Welt von so unterschiedlichen Akteuren wie dem Schriftsteller George Orwell, der WHO oder der Bundesregierung in ihrem Waldschadensbericht vorhergesagt wurden, nicht oder nur in erheblich verkleinertem Maßstab eingetroffen sind, so mag sich unsere Skepsis gegenüber Weltuntergangsszenarien insgesamt erhöhen. Aids, Waldsterben und BSE sind in unterschiedlichem Maß, aber stets als letztlich katastrophal eingestuft worden, doch hat sich zum Glück keine der Prognosen als wirklich zutreffend erwiesen. Auf jeden Fall bis jetzt. Zudem verstärkt der andauernde Alarmismus bestimmter politischer Kräfte die Abwehrhaltung. Sollte die Welt bei Beibehaltung ihres Kurses also tatsächlich auf ein nahes Ende zusteuern, stehen die Chancen schon aus den angeführten Gründen schlecht, dass wir uns noch rechtzeitig auf eine Korrektur besinnen und das Ruder herumreißen. Wir sind des allenthalben verkündeten und prophezeiten Untergangs einfach müde geworden. Hundemüde. Wir sind enttäuscht von einem Wissen, dem wir vertraut haben und von dem wir regelmäßig enttäuscht worden sind. Der Weltuntergang hat einfach noch nicht stattgefunden. Wir glauben nicht mehr an ihn.
    "Dies ist ein Buch über uns. Es ist ein Buch über Sie, Ihre Kinder, Ihre Eltern, Ihre Freunde. Es geht um jeden Einzelnen von uns. Und um unser Versagen. Unser Versagen als Individuen, das Versagen der Wirtschaft und das unserer Politiker. Es geht um den beispiellosen Notfall planetarischen Ausmaßes, den wir selbst geschaffen haben. Es geht um unsere Zukunft."
    Emmott sieht schwarz
    Der Autor Stephen Emmott scheint sich des Problems der Rekursivität von Wissen im Hinblick auf Prognose und Frustration bewusst zu sein. Er hat ein dramatisches Buch mit dem unheilvollen Titel '10 Milliarden' geschrieben, an dessen Ende er verkündet, dass er glaube, dass wir nicht mehr zu retten seien.
    Stärker kann eine Dosis eigentlich nicht sein, die man verabreicht, um wachzurütteln. Sie ist maximal, denn sie basiert auf der Schocktherapie. Der Arzt Emmott, der sie verschreibt, rechnet nicht mit dem Fortbestand der Menschheit, aber weil er sich von realen Ärzten unterscheidet, die stets sicher sind, dass wir sterben, wenn sie sagen, dass wir sterben, besitzt dieser Arzt noch einen Funken unausgesprochener und verheimlichter Hoffnung. Paradoxe Intervention nennt sich das. Insgeheim glaubt er, dass wir es, wenn es ihm nur gelingt, uns wachzurütteln, doch schaffen könnten. Deshalb hat er dieses verheerende Buch geschrieben. Womöglich ist er Vater einer Tochter oder eines Sohnes, und es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als den Fortbestand seiner Gene auf diese Weise sichern zu wollen. Aber genau das ist das Hauptproblem, wie wir sehen werden.
    "Ich habe einem der nüchternsten und klügsten Forscher, die mir jemals begegnet sind, einem jungen Kerl aus meinem Labor, der sich weiß Gott in diesen Dingen auskennt, die folgende Frage gestellt: Wenn er angesichts der Situation, mit der wir derzeit konfrontiert sind, nur eine einzige Sache tun könnte, was wäre das? Was würde er tun?
    Wissen Sie, was er geantwortet hat?
    Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht."
    Emmott will mit seinem Buch schockieren, und das gelingt ihm. Und zwar ausschließlich mit wissenschaftlich gesicherten Fakten. Mit schlichten Extrapolationen. Mit nahezu gesichertem Wissen. Wer das Buch gelesen hat – und das beansprucht nicht mehr als eine Stunde Lebenszeit -, dem wird, was unsere Zukunft anbelangt, schwarz vor Augen geworden sein.
    "Zwischen 1900 und 2012 wurden weltweit insgesamt etwa 2,6 Milliarden Autos (Pkws, Busse, Lkws und andere Nutzfahrzeuge) produziert. Bis 2050 werden vermutlich weitere vier Milliarden Fahrzeuge die Fabriken verlassen."
    Zehn Milliarden Menschen werden wohl nicht Auto fahren können
    Ist uns bewusst, dass die Herstellung eines einzigen Autos ein wahres Vermögen verschlingt, keineswegs nur die läppischen 12.000 Euro, die man beim Händler im Schnitt dafür haben will. Um ein Auto herzustellen, benötigt man Eisenerz, das gefördert und dorthin befördert werden muss, wo daraus Stahl hergestellt werden kann. Der Stahl muss zu einem Autowerk transportiert werden. Auch die Reifen wachsen nicht auf Bäumen, sondern werden aus Kautschuk produziert, welches nicht dort wächst, wo man Reifen daraus macht. Muss also auf Kosten von Energie transportiert werden. Und der Kunststoff des Armaturenbretts beginnt als Öl in der Erde, das Leder der Sitzpolster als Tier, die ihrerseits Wasser und Futter brauchen. Das Blei in der Batterie kommt auch von irgendwo her. Man sieht leicht: Zehn Milliarden Menschen in Zukunft werden kaum alle Auto fahren können. Wenn unsere Fabriken aber trotzdem zehn Milliarden Autos hergestellt haben sollten, wird es uns nicht mehr geben.
    Dankenswerterweise geht Emmott kurz darauf ein, was in den Medien Prominente gern anraten, wenn es darum geht, wie man unsere Lage verbessern könnte. Etwa, indem man das Ladegerät aus der Steckdose zieht, wenn das Handy aufgeladen ist; oder, indem man unter der Dusche pinkelt, statt die Toilettenspülung zu benutzen; oder, indem man zwei Blatt Toilettenpapier benutzt statt drei.
    "Egal, aus welchem Blickwinkel man die Sache betrachtet: Ein Planet mit zehn Milliarden Menschen wird der reinste Alptraum sein."
    Es gibt nur eine Lösung für den Riesenschlamassel, in dem wir bis zum Hals stecken, das lässt sich nach der Lektüre von Emmotts Sachbuch-Schocker mit einem Satz sagen: Wir brauchen weltweit eine Kein-Kind-Politik. Sonst sind wir am Ende des Jahrhunderts nicht 10 Milliarden, sondern 28 Milliarden. Und dann müsste man wahrscheinlich wirklich lernen, mit einem Gewehr umzugehen.

    Stephen Emmott: "Zehn Milliarden";
    Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger.
    Suhrkamp, Berlin 2013. 206 Seiten, 14,95 Euro