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Sachbuch
Gedächtnisschwierigkeiten und falsche Erinnerungen

Erinnerungen sind leicht manipulierbar - das zeigt die Rechtspsychologin und Dozentin Julia Shaw in ihrem Sachbuch "Das trügerische Gedächtnis". Sie präsentiert darin eigene und fremde Forschungsergebnisse. Allerdings strotzt das Sachbuch vor Selbstinszenierung.

Von Andrea Gnam | 17.02.2017
    Zu sehen ist eine Skulptur des Künstlers Loris Marazzi. Zwei Hände halten ein Gehirn.
    Julia Shaw hat in ihrem Sachbuch psychologische Studien der letzten Jahrzehnte, aber auch eigene Versuche referiert. (picture-alliance / dpa / Didier Saulnier)
    Wie problematisch es um das Gedächtnis bestellt ist, wenn es um zurückliegende Ereignisse geht, dürfte jedem bekannt sein, der eigene Erinnerungen mit denen Anderer vergleicht, die an der fraglichen Situation ebenfalls beteiligt waren. Auch dass sich in unserer Vorstellung Erzähltes und Gelesenes, über Fotografien oder Filme Rezipiertes durchaus mit Selbsterlebtem überlagern kann, ist ein der Lebenserfahrung zugängliches Phänomen. Augenzeugenberichte sind deshalb mit großer Vorsicht zu betrachten und Gleiches gilt auch für Befragungen und Verhörmethoden. Wie aber steht es um Geständnisse, an welche die Beschuldigten selbst glauben? Julia Shaw hat in ihrem Sachbuch psychologische Studien der letzten Jahrzehnte, aber auch eigene Versuche referiert, um mit Verve und allzu plakativem, didaktischen Anspruch zu zeigen, wie leicht Erinnerung manipulierbar ist: Schon mit einfachen Mitteln lassen sich falsche Erinnerungen in der Laborsituation erzeugen, sofern die eigenen Eltern oder frühe Bezugspersonen als Garanten für nicht existierende Ereignisse aus der Kinder- und Jugendzeit genannt werden. Die Ergebnisse sind bedrückend.
    "Ich bin eine Gedächtnis-Hackerin"
    Shaw spricht von 70 Prozent der Probanden, die bei einem Versuch, an dem sie als Versuchsleiterin selbst beteiligt war, unter gezielter Einflussnahme vermeintliche Erinnerungen an nicht begangene Straftaten aus ihrer frühen Jugend entwickelten. Die untergeschobenen Szenarien sollten von den unschuldigen Teilnehmern dreimal in der Vorstellung visualisiert werden. Wochen später haben sich diese Visualisierungen als falsche Erinnerungen an begangene Taten detailreich im Gedächtnis eingenistet. Die Vorgehensweise selbst ist eine Modifikation früherer Studien, an denen Stephen Porter und andere Wissenschaftler schon länger forschen, auch diese Studie wurde gemeinsam mit Stephen Porter erarbeitet. In Shaws Darstellung des Versuchs wird dann aber in der Ichform seitenlang vor allem darüber berichtet, wie sie selbst genau agiert, eine lebhafte Selbstdarstellung, die allzu gut im Gedächtnis des Lesers haften bleibt:
    "Ich bin eine Gedächtnis-Hackerin. Ich bringe Menschen dazu, Dinge zu glauben, die nie geschehen sind."
    Wie sehr der Ausgang eines Experimentes von der Versuchsanordnung und dem Auge des Beobachters abhängt, beschäftigt spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts Arbeiten in der Nachfolge von Ernst Mach. Verlässt man sich wie Shaw ausschließlich auf Hirnforschung und psychologische Studien, verwundern die aus aktueller Forschung gezogenen Erkenntnisse vielleicht etwas mehr als bei einer interdisziplinären Betrachtung des Gegenstandes. Für die Arbeit bei Gericht ist es zweifelsohne wichtig, sich vor Augen zu halten, dass auch detailreiche, ja fotografisch anmutende Erinnerungen Konfabulationen sein können, auch bei Missbrauchsprozessen. Detailtreue steht nicht für Authentizität, dies macht Shaw immer wieder geltend:
    "Woher weiß ich das? Weil es Teil meiner Arbeit als Forscherin ist, zu zeigen, dass selbst unsere lebendigsten Erinnerungen manchmal auf den Holzweg führen."
    So interessant und heikel der Gegenstand ist, so gewöhnungsbedürftig ist der Stil, in welchem die Autorin ihr Publikum anspricht. Müssen wir uns wirklich vorstellen, dass ein Engramm – eine physische Repräsentation unserer Erinnerung – das hier die Erinnerung an unseren Lieblingspark verkörpern soll, auf einer Party in unserem Garten befreundeten Engrammen begegnet, also Begriffen wie "Lage des Lieblingsteiches" und "Anblick der Bäume"? Und muss das Trio dort ausgerechnet auf einen "Kevin" treffen, der wohl noch kein Engramm vorstellt, sondern ein unerwünschtes Erinnerungsbruchstück an eine Attacke im Park, von der man in der Zeitung gelesen hat? Was wollte uns Shaw damit doch gleich sagen? Als Leser merkt man sich leichter das Szenario des Vergleichskitschs anstelle differenzierter Inhalte, die damit verstellt werden.
    Vor Selbstinszenierung strotzende Darstellungsform
    Und wie kommt die Gedächtnis- und Suggestionsexpertin eigentlich dazu, uns munter plaudernd wie eine Freundin zu erzählen, dass Freud in seinen letzten Jahren fußnah zum eigenen Domizil in einem dunkelroten Backsteinhaus mit weißen Fenstereinfassungen lebte, dessen Stil an Lebkuchenhäuschen erinnere, im Rollstuhl, mit nachlassenden geistigen Kräften – um in unmittelbarem Anschluss dessen Strategien in seinem Aufsatz "Zur Ätiologie der Hysterie" über Gebühr zu vereinfachen? Freud und das Lebkuchenhaus – das uns alle an die böse Hexe und die misshandelten Kinder erinnern wird, nein, Julia Shaw muss das gar nicht sagen, das macht unser Gedächtnis ganz alleine – wollen wir ihr hier widerstandslos folgen? Schade, das Thema und die zusammengestellten Studien sind viel zu wichtig für derlei, auch wenn diese vor Selbstinszenierung strotzenden Darstellungsformen derzeit populär und erfolgreich sind.