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Sachbuch
Lukrativer Handel mit Menschen in Europa

Für internationale Banden ist der Handel mit Menschen auch in Europa ein profitables Geschäft: Sie zwingen junge Frauen zur Prostitution, handeln mit Kindern und Organen. Der ehemalige "Stern"-Chefredakteur hat versucht mit seinem Sachbuch, Funktionsweisen dieses brutalen Marktes offenzulegen.

Von Manfred Götzke | 07.04.2014
    Die 14-Jährige ist auf dem Weg zur Schule, als der dicke BMW am Straßenrand hält. Ein Mann steigt aus, umklammert ihren Kopf und drückt sie in den Wagen, der mit quietschenden Reifen verschwindet. Die litauischen Polizisten haben mit ihren altersschwachen Ladas keine Chance, die Verfolgungsjagd zu gewinnen. Für das Mädchen, das Michael Jürgs in seinem Buch Elena nennt, beginnt eine zehnjährige Odyssee. Zunächst wird sie in einem Haus der Verbrecher gefangen gehalten und wochenlang vergewaltigt. Dann sperren sie sie in ein Bordell, wo sie als Sex-Sklavin drangsaliert wird. In den nächsten Jahren wird sie quer durch Europa geschleust.
    Michael Jürgs berichtet in seinem Buch von zahlreichen dieser unfassbaren Schicksale: Er schildert den lukrativen Handel mit jungen Zwangsprostituierten, mit billigen Arbeitskräften - oder menschlichen Organen: global organisiert und für die Kriminellen relativ risikolos.
    "Sexuelle Ausbeutung ist ein sicherer Wachstumsmarkt. Jedes Jahr wachsen neue Kunden nach, jedes Jahr erlangt neue Ware Marktreife. Darf man darüber so in der Sprache eines Finanzanalysten, eines Bankberaters schreiben? Vermutlich nicht. Doch Zynismus schützt mitunter vor Verzweiflung."
    Der ehemalige "Stern"-Chefredakteur Jürgs versucht, den Menschenhändlern auf die Spur zu kommen. Der Autor begleitet die Bundespolizei zu Razzien – spricht mit Vertretern der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und mit Europol. Für die Kriminellen ist die Ware Mensch ein überaus einträgliches Geschäft. 30 Milliarden Dollar pro Jahr verdienen international agierende Banden damit nach Schätzungen der Drogen- und Kriminalitätsbehörde der Vereinten Nationen.
    "Darin enthalten sind Gewinne aus freiwilliger wie erzwungener Prostitution, Erlöse aus freiwilligen wie erzwungenen Arbeitsleistungen, aus Kinder- wie aus Organhandel – aus dem Handel mit Haussklaven wie aus dem Geschäftszweig Menschenschmuggel."
    "Die Ware Mensch garantiert Mehrwert"
    Beim Menschenhandel arbeiten die internationalen Mafia-Organisationen mittlerweile zusammen, statt sich zu bekämpfen, schreibt Jürgs - und so profitieren sie von ihren jeweiligen Fähigkeiten. Chinesische Triaden, japanische Yakuza, italienische 'Ndrangheta, deutsche Rockergangs. Sie transportieren auf ihren klassischen Rauschgiftrouten auch Menschen – die wiederum als Drogenkuriere fungieren.
    "Die Ware Mensch garantiert Mehrwert. Frauen lassen sich immer wieder von einem Land ins nächste verschieben, von einem Bordell ins nächste. Menschenhandel ist deshalb für das internationale Verbrecherkartell der Geschäftszweig mit dem größten Potenzial, bei garantiert zweistelligen Renditen."
    Immer wieder vergleicht Jürgs den modernen Menschenhandel der internationalen Mafia mit dem Sklavenhandel der Kolonialmächte zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Damals wie heute wurde der Mensch zur Ware degradiert. Die britischen Händler markierten ihren Besitz vor dem Transport über den Atlantik mit Brandzeichen.
    "Heutige Sklavenhändler verpassen ihren Opfern Tattoos auf Brust und Oberarmen, um der kriminellen Konkurrenz im Menschenhandel zu signalisieren: Hände weg, fremdes Eigentum."
    Organhandel
    Lagen die damaligen Sklavenmärkte im Osten Afrikas, in Daressalam oder Mombasa, werden junge Frauen heute vor allem auf illegalen Märkten in Athen, Prag Istanbul und Moskau gehandelt – für einen Preis von 1.500 bis 4.000 Euro. Der Gewinn pro Frau und Jahr für den "Besitzer" kann bei über 100.000 Euro liegen, rechnet ein Europol-Beamter dem Journalisten Jürgs vor. Ganz ähnliche Margen erwirtschaften internationale Banden mit einem anderen kriminellen Geschäftsfeld: dem Organhandel. Die mehr oder weniger freiwilligen Verkäufer aus Indien, Bangladesch, aber auch Moldawien und Bulgarien bekommen maximal 3000 Euro für die Entnahme ihrer Niere. Reiche Patienten zahlen bis zu 200.000 Euro für die Transplantation.
    "Leib-Eigenes zu verkaufen ist legal, wenn es um legale Transplantationen aufgrund von Wartelisten von Patienten geht. Erst dann wenn eine Vereinigung von Händlern, Ärzten, Kliniken ihre Dienste als Gesamtpaket offeriert, wird es kriminell."
    Jürgs Recherchen zufolge ist das in diesem "Geschäftsfeld" meistens der Fall. Es mischen mit: korrupte Ärzte und Techniker, die in mobilen Kliniken operieren, Reisebüros, die den Transport von Spendern und Patienten organisieren. Die Strippen ziehen oft dieselben kriminellen Organisationen, die auch Bordelle mit Sexsklavinnen versorgen. Die Zwangsprostitution ist laut Jürgs vor allem in Deutschland ein Wachstumsmarkt. Schuld daran sei auch das Prostitutionsgesetz: Durch die Abschaffung des Tatbestands "Förderung der Prostitution" hat die Polizei weniger rechtliche Möglichkeiten, Razzien in Bordellen durchzusetzen und Menschenhändler zu stellen. Die Bordellbetreiber selbst können selten belangt werden.
    "Es muss nämlich nachgewiesen werden, dass der Täter von der 'Zwangslage der Opfer Kenntnis hatte und sie trotzdem im Bordell beherbergte', also ausbeutete. Verfahren gegen die modernen Sklavenhalter sind zudem zeitaufwendig und teuer, was auf manche Staatsanwälte abschreckend wirkt."
    Die Silhouetten von Figuren auf einer Hand.
    Menschenhandel ist weltweit ein lukratives Geschäft. (dpa / Jan-Philipp Strobel)
    Bekämpfung des Menschenhandels
    Um die Kartelle wirksam zu bekämpfen, müssten die Ermittler international noch enger zusammenarbeiten und die Behörden sehr viel mehr Geld bekommen, schreibt Jürgs. Er schildert eine Aktion von Europol im Oktober 2012: In Nigeria, England, Spanien, Schweden und diversen anderen Ländern werden zeitgleich fast 500 Personen überprüft, Rechner und Handys beschlagnahmt. Doch Zeugenaussagen und anderes Beweismaterial werden nie ausgewertet. Das Geld für die kostspieligen Übersetzungen wird nicht bewilligt. Die Verfolgung der Täter scheitert aber nicht nur am Geld. Vor allem müsse es den meist ausländischen Opfern leichter gemacht werden, auszusagen – durch bessere Zeugenschutzprogramme und eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Diese und weitere Forderungen fasst Jürgs im letzten Kapitel in "Zehn Geboten" zusammen - und hier liegt eine der Schwächen des Buches. Immer wieder verfällt der Autor in eine alttestamentarische Rhetorik und krude Rache-Fantasien, wenn er die "bösen" Menschenhändler geißelt.
    "Befreiend wäre also deshalb der Glaube an Gottes Racheversprechen. Befriedigend die Vorstellung, dass alle, die einst der irdischen Gerechtigkeit entgingen, in der Hölle büßen müssten. Zum Beispiel bis zum Jüngsten Tag im Salzstock in der Asse, wo in hunderttausenden undichten Fässern Teuflisches verrottet."
    So albern und wirr diese Einschübe erscheinen, so konfus sind leider auch manche Kapitel des Buches. Innerhalb von drei Buchseiten mäandert Jürgs von einer BKA-Razzia über die NSU-Morde zur Religionsgemeinschaft der Jesiden. Manche Analysen wiederholt er dafür immer wieder. Doch abgesehen von diesen Mankos sind Jürgs Schilderungen durchaus lesenswert. Ein detail- und faktenreiches Sachbuch, das die Funktionsweisen eines brutalen Marktes offen legt.
    Michael Jürgs: "Sklavenmarkt Europa. Das Milliardengeschäft mir der Ware Mensch", Bertelsmann Verlag, 352 Seiten, 19,99 Euro.